Während Toni Kroos Ehrenrunden durch die Stadien des Landes läuft, muss Torwart Manuel Neuer bei der Europameisterschaft seine vielen Kritiker widerlegen.
Wenn es eines nicht allzu fernen Tages die Karriere von Manuel Neuer zu würdigen gilt, dann sollte diese nicht nur an der Anzahl der gehaltenen Bälle bemessen werden, sondern auch an der Anzahl der abgewehrten Fragen. Denn in dieser Disziplin ist Neuer, obwohl schon 38 Jahre alt, noch immer Weltklasse.
Was die Debatte um seine Person mit ihm mache, wurde Neuer am Dienstag im DFB-Camp in Herzogenaurach gefragt. „Ich habe das eher von außen betrachtet. Ich habe mir jetzt nichts durchgelesen“, sagte Neuer und zog dabei die Worte so in die Länge, dass sie gelangweilt klangen. Wichtig sei das Vertrauensverhältnis zu den Spielern und dem Trainerteam, „und da ist das Vertrauen sehr groß“.
Debatte beendet.
Ähnlich bündig hatte schon Bundestrainer Julian Nagelsmann die öffentliche Kritik an Neuer gekontert. Er sehe keinen Anlass an seiner Nummer eins zu zweifeln, sagte Nagelsmann vor zehn Tagen, „eine Debatte lasse ich nicht zu“.
Manuel Neuers lange Mängelliste
Debatte, das ist ein freundlicher Sammelbegriff für all das, was sich Neuer zuletzt hatte zu Schulden kommen lassen: Den Fehlgriff im Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid. Drei schwache Szenen, die zu einem Sieg für Hoffenheim führten und die Bayern auf Platz drei der Bundesligatabelle abstürzen ließen. Den verunglückte Kunstschuss im Testspiel mit der Nationalmannschaft gegen die Ukraine, als Neuer den Ball direkt in den Lauf des gegnerischen Stürmers löffelte (und der Schiedsrichter zum Glück für Neuer auf Abseits erkannte). Und schließlich der Lapsus gegen Griechenland, im letzten Testspiel vor der EM, als Neuer einen Ball prallen ließ, den die Griechen zum 1:0 einschoben.
Die Mängelliste ist irritierend lang für einen Nationaltorhüter aus dem Torwartland Deutschland, aber beim DFB haben sie beschlossen, dass Neuer noch immer ein großartiger Schlussmann ist. Man schafft sich mit Worten eine eigene Welt und hofft, dass sich die Welt dort draußen, jenseits von Herzogenaurach, zügig anpasst.
Bislang haben sie Erfolg mit dem Herbeireden der gewünschten Realität. Deutschland hat das EM-Auftaktspiel 5:1 gegen Schottland gewonnen, und Manuel Neuer blieb fehlerlos. Was so schwer nicht war, denn er hatte nichts zu tun am Freitagabend in München. Eine einzige Torchance für die Schotten fand sich in der Spielstatistik wieder – es war das Eigentor von Antonio Rüdiger, an dem Neuer keine Schuld trug.
Seine Ära neigt sich dem Ende zu
Die Europameisterschaft ist das achte Turnier, das Neuer als Nummer eins bestreitet. Am Mittwoch gegen Ungarn wird er Gianluigi Buffon als Torhüter mit den meisten EM-Einsätzen ablösen. Noch ein Rekord mehr für Neuer, den fünfmaligen Welttorhüter des Jahres.
Und doch scheint Neuer zu spüren, dass sich seine Ära dem Ende zuneigt. „Ich werde mir meine Gedanken machen nach dem Turnier“, sagte er am Dienstag, was als Andeutung eines Rücktritts gedeutet werden darf.
Eröffnungsfeier in der Stilkritik 23.30
Neuers Bedeutung in der Nationalmannschaft ist gewaltig geschrumpft in den vergangenen zwei Jahren. Bei der WM 2022 ließ er sich vom kollektiven Abwärtsstrudel mitreißen und trug mit einem Stellungsfehler zur 1:2-Niederlage gegen Japan bei, die das Scheitern in der Gruppenphase bedeutete. Nach dem Turnier verletzte sich Neuer schwer beim Skifahren. In seiner Abwesenheit ernannte der damalige Bundestrainer Hansi Flick Ilkay Gündoğan zum Kapitän – ein Amt, das Neuer sieben Jahre lang innegehabt hatte. Flicks Nachfolger Julian Nagelsmann beließ es bei der Regelung, als Neuer zum Team zurückkehrte, auch dies ein Zeichen seines Statusverlustes.
Eine Stufe unter Gündogan und Kroos
Im Organigramm der Mannschaft, das Neuer mehr als ein Jahrzehnt weit oben führte, steht er nun einer Stufe unter Gündoğan und auch unter Toni Kroos.
Der ist der inoffizielle Anführer, ein Kapitän ohne Binde, an ihm richtet sich die ganze Mannschaft auf. Kroos, 34, sechsmaliger Champions-League-Sieger mit Real Madrid, hat bereits seinen Abschied vom Fußball angekündigt. Er wird in wenigen Wochen auf der Höhe seiner Schaffenskraft abtreten.
Diesen Zeitpunkt hat Manuel Neuer verpasst. Er, der vier Jahre älter ist als Kroos, wird sich bei der EM nochmals beweisen müssen. Das Turnier ist eine Prüfung für ihn, keine Ehrenrunde. Neuer kämpft um das letzte Bild, das von ihm bleiben wird bei der Nationalmannschaft. Es muss ein sehr starkes, leuchtendes werden. Eines, das die vielen trüben Bilder der vergangenen Jahre übermalt.