Wer Kindern Gewalt antut, muss normalerweise mit sozialer Ächtung rechnen. Was der Angriff in Grevesmühlen mit dem gesellschaftlichen Klima zu tun haben könnte, erklärt ein Sozialpsychologe.
Der mutmaßlich rassistisch motivierte Angriff auf zwei Kinder aus Ghana hat neben Ermittlungen der Polizei auch eine politische Debatte in Gang gesetzt. Die Innenminister von Bund und Ländern sollten sich bei ihrer Frühjahrskonferenz in dieser Woche mit Maßnahmen gegen rassistische Gewalt beschäftigen, sagte die Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic. „Der abscheuliche rassistische und feige Angriff durch eine große Gruppe von Menschen auf zwei ghanaische Kinder in Grevesmühlen darf nicht folgenlos bleiben“, sagte die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Bundestagsfraktion am Montag der Deutschen Presse-Agentur. Die Innenministerkonferenz sei nun gefordert, sich mit dem Vorfall und den nötigen Konsequenzen zu befassen.
Zugewanderte Kinder sollen sich sicher fühlen können
„Eine solche Attacke kann zu Nachfolgetaten animieren und darüber hinaus verheerende Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl von schwarzen und migrantischen Kindern und Jugendlichen in Deutschland haben“, warnte Mihalic. Dem müsse entschieden entgegengewirkt werden.
Nach Polizeiangaben waren in der mecklenburgischen Stadt am Freitagabend ein achtjähriges Mädchen und seine zehn Jahre alte Schwester aus einer Gruppe von etwa 20 Jugendlichen und Heranwachsenden heraus angegriffen worden. Dem jüngeren Mädchen sollen die Angreifer unter anderem ins Gesicht getreten haben. Als die Eltern hinzukamen, soll es laut Polizei auch mit diesen zu einer Auseinandersetzung gekommen sein. Die Achtjährige und der Vater wurden leicht verletzt und kamen kurzzeitig in ein Krankenhaus.
Als Polizisten vor Ort eintrafen, soll eine Person die Opfer beim Weggehen auch rassistisch beleidigt haben. Der Staatsschutz hat die Ermittlungen übernommen. Der Vater der Mädchen sagte der „Bild“, er und seine Familie wollten sich nicht aus der Stadt vertreiben lassen „Wir leben seit 2016 in Grevesmühlen, wir bleiben hier“, zitierte ihn die Zeitung.
Die Innenministerinnen und Innenminister von Bund und Ländern treffen sich an diesem Mittwoch zu Beratungen in Potsdam. Bei ihrem dreitägigen Treffen wird es unter anderem um Bevölkerungsschutz, europäische Asylpolitik und Abschiebungen gehen. Im ersten Quartal dieses Jahres zählte die Polizei laut vorläufigen Zahlen bundesweit 46 rechts motivierte Gewalttaten, bei denen Rassismus eine Rolle spielte. Acht dieser Straftaten wurden demnach in Mecklenburg-Vorpommern registriert.
Rechtsextremismusforscher beobachtet eskalierende Enthemmung
Der Direktor des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig, Oliver Decker, sieht einen Zusammenhang mit der Europawahl am 9. Juni, bei der die AfD in allen ostdeutschen Flächenländern jeweils die meisten Stimmen erhalten hatte. Er erklärte: „Wenn ich vermute, dass die Norm der Ächtung von Gewalt in meinem Umfeld nicht mehr gilt, dann kann ich dem Bedürfnis nachgehen.“ In diesem Fall bedeute dies, den eigenen Ressentiments freien Lauf zu lassen, bis hin zur Ausübung von Gewalt. Die AfD zu wählen, sei bereits „Kennzeichen einer Radikalisierung“, fügte er hinzu.
Zu den Ursachen der „eskalierenden Enthemmung“, die in Teilen der Gesellschaft aktuell – nicht nur im Osten – zu beobachten sei, zählt Decker das Erleben tatsächlicher oder vermeintlicher Ungerechtigkeit. Wer in seinem Leben nicht nur positive Folgen der Liberalisierung erlebe, suche oft an anderer Stelle nach einem Ventil für die aus dieser Situation heraus entstandenen Aggressionen. Das gelte selbst für Menschen, die sich auf den Prozess der Liberalisierung einst freiwillig eingelassen hätten.
Gleichzeitig entstehe bei Betroffenen oft eine Weltsicht, in der das „Wir“ klar abgegrenzt werde gegen eine wie auch immer definierte Gruppe „der Anderen“. Diese würden dann als Gegner oder Feinde empfunden. Ein solches Denken sei meist verbunden mit dem Wunsch nach einer Art Schutzmacht, die sich vermeintlich für die eigene Gruppe starkmache, sagte der Sozialpsychologe.
In den vergangenen Wochen hatten mehrere Vorfälle für Schlagzeilen gesorgt, bei denen Feiernde bei Volksfesten und privaten Partys mit rassistischen Gesängen aufgefallen waren. Wegen rechtsextremer Parolen und volksverhetzendem Gegröle hat es im Saarland in der Nacht zum Samstag gleich zwei Polizeieinsätze gegeben.
Sogenannte Neue Rechte versuchten, ihre Ideologie in die Mitte der Gesellschaft zu tragen, hatte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, vor einigen Tagen in einem Interview gesagt. Es gehe ihnen darum, „das, was früher unsagbar war, wieder sagbar zu machen“.
Schwesig: Haben Problem mit Rechtsextremismus
Ministerpräsidentin Manuela Schwesig appellierte an die Menschen im Land, unmissverständlich klarzumachen, dass Gewalt gerade gegen Kinder in keiner Weise tolerierbar ist. „Ich beobachte schon, dass der Hass und die Hetze, die wir seit Wochen und Monaten erleben, wirklich dieses Gift in der Gesellschaft ankommt“, sagte die SPD-Politikerin im NDR.
„Zurzeit habe ich den Eindruck, dass gerade solche Leute wieder Oberwasser haben, weil sie denken, das ist die Stimmung im Land, das ist die Meinung.“ Deshalb sei es so wichtig, dass die Mehrheit, die das ablehnt und verurteilt, auftrete. Es gebe schon immer ein Problem mit Rechtsextremismus, sagte Schwesig. „In unserem Land, im Osten, in ganz Deutschland“.
Aufruf zu Lichterketten um jede Kirche in MV
Ein Zeichen gegen „rassistischen Terror“ will die Domgemeinde Schwerin an diesem Donnerstag setzen. Sie rief zu Lichterketten um den Dom und um jede Kirche in MV unter dem Motto „Zeigt Euer Gesicht gegen Rassismus“ auf. Die Landesbischöfin der Nordkirche, Kristina Kühnbaum-Schmidt, äußerte sich entsetzt über die gehäuften mutmaßlich rassistisch motivierten Vorfälle in Mecklenburg-Vorpommern. „Diese Taten sind entsetzlich und durch nichts zu entschuldigen. Deshalb ist es wichtig, unverzüglich ein gemeinsames und deutlich sichtbares Zeichen gegen Rassismus und für eine weltoffene Gesellschaft zu setzen“, betonte sie.
Der Direktor des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmen, Andreas Breitner, erklärte: „Die Opfer dieser abscheulichen Attacke sind Menschen, die in einer Wohnung eines unserer Mitgliedsunternehmen leben.“ Man könne die aktuelle Migrationspolitik kritisch sehen, so Breitner. „Aber zwei Mädchen anzugreifen – und damit jene, die am meisten Schutz bedürfen, zu bedrohen – das ist einfach nur abscheulich und bedarf einer konsequenten Reaktion unseres Staates.“