Besuch in Berlin: Javier Milei mag ein durchgeknallter Rechtspopulist sein. Für Scholz gibt es vier Gründe, ihn trotzdem zu treffen

Gegen den Staatsbesuch von Javier Milei haben Menschen in Deutschland protestiert. Die Forderungen, Argentiniens umstrittenen Präsidenten auszuladen, sind nicht hilfreich.

Mit Kategorisierungen ist es bei Argentiniens Präsident Javier Milei nicht ganz leicht. Ein Rechtspopulist ist er sicherlich, aber kein christlicher Nationalist vom Schlag eines Jair Bolsonaro. Ein Großmaul auch, aber kein fremdenfeindlicher Hetzer wie Donald Trump. In jedem Fall wettert er eifrig gegen Klimaschützer, Feministinnen, Journalisten – gegen eigentlich alles, was er für links hält und mit Marxismus gleichsetzt.

Sich selbst nennt Milei libertär, einen Anarcho-Kapitalisten, der die Wirtschaft seines krisengeplagten Landes liberalisieren und den Staat „von innen zerstören“ will. Anders als Trump ist er kein Protektionist. Anders als Bolsonaro kein Militarist. Er ist – so viel scheint sicher – ein Exemplar, wie es noch nicht da war im Spektrum der populistischen Rechten.STERN PAID Argentinien Miliei 6.15

Die Protestveranstaltungen gegen Milei in Hamburg und Berlin sind verständlich – und doch ist es richtig, dass Olaf Scholz den Mann mit der wilden Mähne und abgetragenen Lederjacke im Kanzleramt empfängt.

Javier Milei: Gebt dem Verrückten noch eine Chance

Erstens ist Milei der demokratisch gewählte Vertreter eines wichtigen Landes und repräsentiert die Hoffnung Millionen verzweifelter Argentinier, nachdem all seine Vorgänger an der Inflationsbekämpfung gescheitert sind. Milei versucht es jetzt mit einem marktradikalen Ansatz, der viele Opfer fordert, wie man in den Straßen und Suppenküchen von Buenos Aires deutlich erleben kann. Die Armutsrate ist auf über 50 Prozent gestiegen. Aber die Inflation hat er zunächst stabilisiert, seit Jahrzehnten das Hauptproblem für das Land, vor allem für die Ärmsten der Armen. 

Die meisten Argentinier, auch Politologen und Ökonomen, sind nach sechs Monaten Amtszeit der Ansicht: Gebt dem Verrückten, „El Loco“, eine Chance – noch. Das ist zu respektieren, auch von Scholz – bei allen Bedenken angesichts des sozialen Kahlschlags.

Ein wichtiger Partner für den Westen und Deutschland

Zweitens gilt es, Argentinien wieder stärker einzubinden in die westliche Welt, nachdem die linkspopulistischen Peronisten einen Kuschelkurs mit Putins Russland und Chinas Xi Jinping betrieben, der an die Zeit des Kalten Kriegs erinnerte. Dass Milei gerade Ukraines Präsident Selenskyj herzlich umarmte, ist nicht das schlechteste Zeichen auf einem Kontinent, wo die meisten Präsidenten wenig Solidarität mit der Ukraine zeigen. Hier sollte Scholz darauf hinweisen, dass ein pro-westlicher Kurs nicht nur mehr Handel bedeutet, sondern auch mehr Austausch, mehr Vereinbarungen, mehr Klimaschutz, mehr Frauenrechte – Dinge, die Milei bisher ablehnt.

Drittens ist Argentinien wirtschaftlich für Deutschland zu wichtig, als dass das rohstoffreiche Land anderen Wirtschaftsmächten, vor allem China, allein überlassen werden sollte. Es hat große Vorkommen an Lithium und grünem Wasserstoff, an Erdgas und Kupfer, und wenn Milei sein Land jetzt für Investoren öffnet, ist Deutschland nicht der schlechteste Partner, um verantwortungsbewusst und umweltschonend vorzugehen. Auch darauf wird Scholz hinweisen und dies dem Klimaleugner entgegensetzen.Argentinien IV Juan Negri 10.16

Viertens ist Milei zwar ein Großmaul, aber außenpolitisch unerfahren und desinteressiert, wie aus seinem eigenen Kabinett zu hören ist. Er nutzt die Auftritte in Europa vornehmlich für innenpolitische Zwecke und die eigene Vermarktung. Scholz sollte den Besuch also nutzen, um den noch formbaren Outsider stärker in die westliche Wertegemeinschaft einzubinden – weg von rechten Demagogen und Anti-Globalisten. Er sollte außerdem aufzeigen, dass sich – wie in der deutschen Geschichte – Inflationsbekämpfung und Armutsbekämpfung genauso wenig ausschließen wie unternehmerische Freiheit und soziale Absicherung.

Olaf Scholz sollte Javier Milei in Richtung Mitte treiben

In der Praxis zeigt sich Milei bereits flexibler als in seiner Rhetorik. Das demonstrierte er gerade erst beim Verhandeln des großen Reformpakets „Ley Bases“, als ihm nichts anderes übrigblieb, als zahlreiche Kompromisse einzugehen.

Das Treffen ist bestimmt kein Zuckerschlecken für einen wie Scholz, der von Milei als Teil der „Casta“ gesehen wird, der Kaste, als ein typischer Repräsentant der Politelite. Milei bevorzugt „echte Kerle“ und Einzelkämpfer wie Donald Trump, Elon Musk, Mark Zuckerberg, die sich von keinem etwas sagen lassen und am liebsten die Deregulierung der gesamten Welt hätten, zumindest dann, wenn sie ihnen selbst nützt. 

Vielleicht findet Scholz mit dem ehemaligen Torwart Gemeinsamkeiten beim Thema Euro 2024 oder beim Thema Beatles (beide sind Fans). Bestimmt eher als beim Thema Tierklonen (das Milei freigeben wollte) und beim Thema Organhandel (den er liberalisieren wollte).Milei Argentinien Autoritarismus14.32

Gleichzeitig sind dies Beispiele dafür, dass „El Loco“ von seinen Fantasien abrückt, wenn er der Realität ins Auge blicken und die Aussichtslosigkeit seiner Alleingänge erkennen muss.

Scholz, ein Meister im Durchhalten und stoischen Ertragen, sollte Milei noch etwas weiter in Richtung Mitte und Realpolitik treiben. 

Dafür muss er mit ihm reden.