Spannung statt Satire: Der Erfinder des Anarcho-Kängurus, Marc-Uwe Kling, hat einen gesellschaftskritischen Thriller geschrieben. Kann das gut gehen?
Ein sechzehnjähriges Teenie-Mädchen verschwindet, taucht in einem brutalen Internet-Video auf. Die Täter sind schwarz. Rechte Gruppierungen drehen durch, üben Rache. Links und Rechts prallen aufeinander, auf den Straßen fliegen bald Handgranaten. Die sozialen Medien befeuern das Chaos und es gibt ungeahnte Dinge, die aus der digitalen Welt hervorkriechen… Wie der Autor hier versucht, aktuelle politische Debatten in Romanform zu gießen, hat einen Schuss Panikmache: Was kann man noch glauben, was nicht? Und müssen wir jederzeit mit dem Schlimmsten rechnen?
Marc-Uwe Kling kennt man vor allem von den „Känguru-Chroniken“. Die satirischen Stories um ein Anarcho-Beuteltier, das mit einem erfolglosen Musiker zusammenlebt, war so beliebt, dass sie ins Kino kamen, Kling schrieb die Drehbücher. Auch ein Kindermusical mit einem rebellischen Fabelwesen namens „Neinhorn“ hat er sich ausgedacht und ein Fantasy-Buch, an dem auch seine Zwillingstöchter mithalfen. Stand Kling also bisher für Skurrilität und Humor, versucht er sich nun zum ersten Mal als Krimiautor. Das klappt mittelgut. PAID STERN 2020_11 Dann hüpf doch 13.12
Marc-Uwe Kling erzählt von Flachwitzen und Leberwurststullen
Was der Verlag als „Thriller“ bewirbt und auf dem Cover mit einer Trigger-Warnung („Sensible Inhalte“) versieht, ist nicht spannender als ein gewöhnlicher Sonntags-Tatort. Auch das Personal ist ähnlich gestrickt: Toughe Kommissarin mit Migrations-Background trifft auf behäbigen Ossi-Kollegen, der genauso oft politisch inkorrekte Scherze macht, wie er Leberwurststullen inhaliert. Dass Kling immer wieder Flachwitzchen einstreut, geht mit den teils brutalen Ereignissen seiner Story nur bedingt zusammen. Immerhin: „Views“ ist besser geschrieben als jeder Fitzek.
Marc-Uwe Kling: „Views“, Ullstein, 19,99 Euro
Der Autor hat seine Hausaufgaben gemacht, erklärt ausführlich, was „Deepfakes“ sind und wofür Abkürzungen wie AFIS und IDKO stehen (googlen Sie selbst). Wegen der vielen Erklärpassagen erinnert „Views“ mehr an ein als Krimi getarntes Sachbuch über technische Innovationen und Polizeiarbeit. Wenig authentisch hingegen sind Szenen zur Ermittlungsarbeit, etwa, wenn Mitarbeitende des BKAs wie eine Horde Trottel vor einem Bildschirm stehen und staunen („Die meisten im Team scheinen nicht gewusst zu haben, wie weit die Technik ist“).
Im letzten Drittel des Buches gewinnt die Geschichte an Tempo, es gibt ein paar Überraschungen. Die Schlussszenen allerdings lesen sich, als habe Kling dem Genre, in dem er sich einmal auszuprobieren gedachte, buchstäblich mit aller Gewalt noch einmal gerecht werden wollen.