Gender-Kampf um Olympia: Sport und Geschlecht: Welcher Körper darf’s denn sein?

Olympia lässt Populisten heißdrehen: Ist die Boxerin ein Boxer, intersexuell, transsexuell – oder sonst etwas Rätselhaftes, was mich triggert? Die Lust an der moralischen Panik ist so alt wie angesagt. Nicht zuletzt bei Donald Trump.

Wenn es einen Menschenleib gibt, der olympische Medaillen anzieht wie der Mond die Gezeiten, dann sieht er so aus: 193 Zentimeter groß, Arm-Spannweite über zwei Meter, Hände wie Schaufeln, Füße wie Flossen, ein überlanger Rumpf, erstaunlich kurze Beine – voilà: Michael Phelps. Mit 28 Medaillen, davon 23 in Gold, ist er der erfolgreichste Olympionike aller Zeiten und ein Paradebeispiel genetischer Vorzüge. 

Ein Schwimmroboter-Konstruktionsbüro hätte kein besseres Design erfinden können. Und alle finden das großartig. Denn Phelps‘ unbestreitbare Vorteile gegenüber der Konkurrenz werden nicht mit seinen (vermutlich zwei) geschlechtsbestimmenden Chromosomen in Verbindung gebracht. Man vermutet die geheime Formel seines ewigen Siegens in den übrigen 44 Erbgut-Molekülen seiner Körperzellen. Also regt sich niemand auf. Alle feiern Phelps.

Ganz anders sieht es aus, wenn es um die gewohnten Grenzen der Geschlechter geht. Hier ist die Zahl der selbstberufenen Hobby-Genetiker längst unüberschaubar: Demagogen haben das Thema für sich entdeckt. Vielleicht weil es heutzutage, aller Lust am provokativen Hass zum Trotz, nicht mehr wirklich ankommt, offenen Sport-Rassismus zu propagieren, haben auch rechte Einpeitscher nun ihre brennende Sorge um die athletische Fairness entdeckt – und so ein alternatives Feld gefunden, um ihren Obsessionen zu frönen. Vorgeblich möchten sie nun die nach ihrer Meinung einzig richtige Ordnung der Geschlechterverhältnisse auf Aschenbahn und Fußballfeld, im Schwimmbecken und im Ring verteidigen.

IBA gegen Imane Khelif 19.22

Im Januar 2021, als sich Donald Trump mehr schlecht als recht von seiner Wahlniederlage erholt hatte, widmete er beim ersten großen Auftritt vor seinen Anhängern buchstäblich die Hälfte seiner Redezeit dem Thema „Transgender im Sport“. Die moralische Panik darüber, dass sich Männer vorsätzlich in Frauen verwandeln könnten, um dann in den Wettkämpfen für Frauen aufs Treppchen zu steigen, hatte sich in den USA schon dermaßen ausgebreitet, dass zornige Väter bei Mädchenfußballspielen ernsthaft nach Geschlechtsinspektionen verlangten.

Olympia für Netz-Empörte im Gender-Trouble

Inzwischen ist der Empörungs-industrielle Komplex nach Trumpschem Rezept enorm gewachsen. Insbesondere im Netz, natürlich. Um voll in Wallung zu geraten, ist es jetzt nicht mehr nötig, dass ein Mensch die physische Transition zum anderen Geschlecht vollzogen hat. Die heimtückische Verächtlichmachung der algerischen Boxerin Imane Khelif stützte sich faktisch allein auf Hörensagen über angeblich zu hohe Testosteronwerte bei einem Wettkampf des unter der Kontrolle des Putin-Vertrauten Umar Kremlew stehenden Boxverbandes IBA. Dieser hat ein gewisses Interesse an Rache am IOC, denn er ist bereits inklusive der Spiele von 2028 von Olympia ausgeschlossen. 

Nichtsdestotrotz schossen Spekulationen über Khelif ins Kraut, und den Beteiligten schien es egal zu sein, ob sie Khelif in ihrer Stereotypen-Sammlung unter „transsexuell“, „intersexuell“ oder „ehemals Mann oder immer schon Frau, aber mit enormen Testosteronwerten“ einordnen sollten. Ebenso war es ihnen gleich, ob sie ganze Chromosomensätze erfinden, über die Datierung von Geburtsurkunden spekulieren oder einen spezifischen Schoß-Schützer für Frauen zum Hoden-Protektor umdefinieren sollten.

Transsexualität – also eine vom physischen Geschlecht abweichende Identitäts-Disposition – und Intergeschlechtlichkeit, bei der körperliche Merkmale nicht eindeutig als weiblich oder männlich eingeordnet werden können, sind grundverschiedene Phänomene. Ein von der häufigsten physischen Ausprägung des chromosomalen Geschlechts abweichendes physisches Geschlecht ist davon wiederum zu differenzieren. 

Bezeichnungen wechseln, aber eines gilt seit zwei Jahrhunderten: Der wissenschaftlichen und medizinischen Elite wird in westlichen Gesellschaften eine überragende Deutungshoheit dazu eingeräumt. Besonders in der großen Aufbruchsepoche des naturwissenschaftlichen Weltbildes schuf sie ein praktisches Sortiment angeblich „natürlicher“ Wahrheiten – Rassenkunde, die „Natürlichkeit“ des Kampfes aller gegen alle in der Marktwirtschaft oder alternativ der vorgezeichnete Weg der Gesellschaft zum Kommunismus und natürlich die angeblich evolutionär strikt geregelten Geschlechterverhältnisse, die es unbedingt zu schützen gelte. 

Wir werden dieses Erbe falscher Gewissheiten nur schwer wieder los. Was für Konservative einst „gottgegeben“ war, ist für sie heutzutage „offensichtlich“ und „von Natur aus so“. Aber das ist alter Wein in neuen Schläuchen.

Geschlecht eindeutig uneindeut… Diagnose Intersexualität (2068219)

Bereits 1843 suchte man in Amerika ärztlichen Rat, um zu entscheiden, ob alles seine Ordnung hatte. Auch damals war ein Wahljahr, zumindest im Staat Connecticut, und dort stand es Spitz auf Knopf, denn die Stimme von Levi Suydam konnte die Abstimmung in der Kleinstadt Salisbury entscheiden. Daraufhin erklärte die unterlegene Partei Suydam zur Frau. Frauen, das galt als naturgesetzlich, durften nicht wählen. Der zur Begutachtung herangezogene Arzt fand einen Penis. Die Wahl galt. 

Dann berichteten Zeugen, dass Suydam menstruiere. Der Doktor änderte sein Urteil. Und nun, so berichtet es die New Yorker Forscherin Elizabeth Reis, galt: „Suydams frühere Bemühungen um Männlichkeit könnten als Täuschung interpretiert werden, was zur schlimmsten Art von Wahlbetrug führt. Solche Täuschungen aufzudecken und zu entlarven war genau das, was die Ärzte mit ihrer Wissenschaft bezwecken wollten.“ Völlig unhinterfragt – so war der Geist der Zeit – blieb dabei aber die entscheidende Frage, wieso es „vollkommen natürlich“ erschien, dass Frauen und folglich alle, die die Gesellschaft dazu erklärte, kein Wahlrecht haben sollten.

Sexismus und Rassismus: Wie Forscher zündelten

Die Übergriffigkeit, anderen zu erklären, wer und was sie sind und zu sein haben, feierte sich in den letzten Tagen im Netz hemmungslos selbst: Hunderte Kommentare dazu, dass man mit seinen eigenen, grandios begabten Augen sehe, dass Khelif „ein Mann sei“. Auch das ist eine Fähigkeit, die sich besonders seit dem 19. Jahrhundert wissenschaftliche Meinungsführer zugeschrieben haben – und heute offenbar jeder, der ein Smartphone halten kann. 

Der US-Forscher Joseph LeConte dekretierte damals: „Die Tendenz der Evolution geht dahin, den Mann immer männlicher und die Frau immer weiblicher zu machen.“ Der deutsche Sexualwissenschaftler Richard Krafft-Ebing, ganz im Sinne des zunehmenden Rassenwahns, argumentierte: „Je höher die anthropologische Entwicklung der Ethnie, desto stärker sind die Gegensätze zwischen den sekundären Geschlechtsmerkmalen bei Mann und Frau.“

Sexismus und Rassismus verflochten sich damals miteinander und wurden zu einer Grundzutat völkischer und reaktionärer Ideologien und ihrer strikten Zuordnung von Identitäten, Rollen, Pflichten und Privilegien an unterschiedliche Gruppen. Letztere natürlich immer an sich selbst.

Kommentar Intersexualität und Sport

Bei der Europameisterschaft sind die AfD-Agitatoren Maximilian Krah und Björn Höcke damit gescheitert, gegen die deutsche Fußballnationalmannschaft aufzuwiegeln, deren Diversität sie in Rage brachte. Die Gesellschaft steckte sich nicht an, und das angebliche Skandalfarben-Trikot wurde ein Verkaufsschlager. Immunität gegen das Gender-Getöse um Olympia wäre auch jetzt zu empfehlen.

Denn ginge es denen, die sich jetzt echauffieren, tatsächlich um ein utopisches Ideal der völligen Chancengleichheit im Sport, kämen sie ja nicht umhin, eine eigene Wettkampfklasse für Phelps, eine für nordafrikanische Langstreckenläufer oder für 2,10 Meter große Basketballchampions zu verlangen. Aber darum geht es ihnen nicht. 

Genauso wenig, wie es Trump je um etwas anderes geht als um Trump. Denn dazu, Regeln für die Beteiligung etwa nicht-binärer Sportler:innen bei Wettkämpfen aufzustellen und durchzusetzen, wird der Sport am Ende schon selbst in der Lage sein – er hat bereits seit 2015 welche und passt sie an. Tatsächlich geht es aber, wie schon bei der überdrehten Reaktion auf eine angebliche Abendmahls-Persiflage bei der Olympia-Eröffnungsfeier, auf Kosten von Imane Khelif einzig darum, auf dem Reichweiten-Trittbrett der Spiele von Paris maximale Aufmerksamkeit abzugreifen. Konstruktiv ist daran nichts, vorangebracht werden soll allein die eigene gesellschaftspolitische Rückwärts-Agenda aus Kaisers Zeiten.