35 Prozent der Ausbildungsplätze sind im vergangenen Jahr nicht besetzt worden. Das ist ein neuer Rekord. Schuld ist auch ein Bildungsdünkel, der Abi und Studium höher einschätzt.
Ein Königreich, nein, einen Mercedes, für einen Lehrling. Mit dieser Aktion sorgte Kfz-Mechanikermeister Patrick Lippick aus Oberzent in Hessen im Februar für Aufsehen. Er suchte zwei Auszubildende und lockte mit einem historischen Mercedes der G-Klasse. Das ist eine Art Geländewagen, der nicht mehr gebaut wird. Die Lehrlinge bekommen den Wagen bei Vertragsunterzeichnung, dürfen ihn in ihrer Freizeit unter Anleitung in seiner Werkstatt restaurieren. Dann müssen sie nur noch regelmäßig zur Berufsschule gehen und den Abschluss mit einer Note bestehen, die besser als 3 ist. Der Oldtimer, der dann zwischen 30.000 bis 40.000 Euro wert ist, gehört ihnen dann.
300 Bewerber und Bewerberinnen melden sich bei Lippick. 20 kamen zum Vorarbeiten, zwei suchte er aus, ein Bewerber sagte wieder ab. Das lag auch daran, dass die Firma demnächst nach Bayern umzieht. Eine Auszubildende hat er gefunden. „Wir verlangen eigentlich nur, was bei uns normal war“, sagt der 51-jährige Handwerksmeister.
Das Kind will jobben, aber nicht von 9 to 5 18.08
Über 200.000 Azubi-plätze unbesetzt
Mit der Suche von Lehrlingen hat er Erfahrung. Seit 1997 führt er seinen Meisterbetrieb. Es sei „immer schwieriger geworden“, Auszubildende zu finden. Mit diesem Problem ist Lippick nicht allein. Im vergangenen Jahr blieben so viele Ausbildungsplätze unbesetzt wie nie zuvor. 35 Prozent der Ausbildungsplätze konnten nicht besetzt werden, wie eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung belegt. 2010 waren es noch 15 Prozent.
Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Im vergangenen Jahr konnte etwa jeder zweiter Betrieb (49 Prozent) seine Ausbildungsplätze nicht besetzen. Ein neuer Negativrekord. Mehr als ein Drittel der Betriebe gaben an, keine einzige Bewerbung erhalten zu haben. Das sind nach Angaben der Deutschen Industrie- und Handelskammer, die die Daten erhoben hat, knapp 30.000 Firmen in Deutschland. Im Juli 2024 waren laut Bundesagentur für Arbeit 204.000 Ausbildungsplätze unbesetzt, allein im Handwerk sind es schätzungsweise um die 20.000.
Meister Lippick hat seine eigene Theorie, woher der Lehrlingsmangel rühren könnte. „Es ist ein hausgemachtes Problem der Elternhäuser“, glaubt er. „Die haben das Handwerk nicht mehr so auf dem Schirm. Die sagen: Lern Du mal was Besseres, mach Dich nicht kaputt. Man kann sein Geld einfacher verdienen und schicken die Kinder ins Studium – egal, ob sie es dann schaffen oder nicht.“ Aber, gibt der Handwerksmeister zu bedenken: „Wir können nicht alle am Laptop sitzen und Geld verdienen, das funktioniert nicht. Wir brauchen auch ein paar Leute, die mit den Händen arbeiten.“
Lieber an die Uni als in die Werkstatt
Tatsächlich streben junge Leute in Deutschland nach der Schule lieber an die Uni, statt in die Werkstatt oder ins Büro. Fast 2,9 Millionen Studierende waren im Wintersemester 2023/24 an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Rund 1,2 Millionen waren Ende 2022 in der Ausbildung. Es gibt also mehr als doppelt so viele Studierende wie Azubis. Das Geld spielt vermutlich eine Rolle. Dass ein höherer Bildungsabschluss sich in der Regel im wahrsten Sinne des Wortes auszahlt, hat das Statistische Bundesamt errechnet: Vollzeitbeschäftigte, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, verdienten im April 2022 im Schnitt 3.521 Euro brutto. Wer einen Meister-, Techniker- oder Fachschulabschluss vorweisen konnte, kam auf 4.826 Euro.
Ein Bachelorabschluss brachte einen Durchschnittsverdienst von 4 551 Euro. Und ein Master 6.188 Euro. Bei promovierten oder habilitierten Beschäftigten betrug der durchschnittliche Verdienst sogar 8.687 Euro. Allerdings fand das Institut für angewandte Wirtschaftsforschung der Universität Tübingen 2019 heraus, dass sich die Gehälter immer mehr annähern, so „dass es sich nach einer Berufsausbildung genauso sehr lohnt, einen Meister oder Techniker zu machen, wie ein Hochschulstudium anzuschließen“.
Mehr Ansehen durch Abi und Studium
Doch es ist nicht nur das Geld, auch Ansehen spielt eine Rolle. Bildungsforscher Rainer Dollase von der Universität Bielefeld befragte 6.500 Männer und Frauen, welche Informationen ihnen wichtig seien, um andere Menschen beurteilen zu können. Die Befragten antworteten bei sechs Stichproben immer gleich: Schulabschluss, Beruf, Alter, Geschlecht, Nationalität, Religion. In dieser Reihenfolge. „Der Mensch scheint für viele immer noch beim Abitur zu beginnen“, klagte Josef Kraus, Buchautor und bis 2017 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, auf einer Expertentagung zum Thema „Akademikerschwemme versus Fachkräftemangel„.
Tatsächlich schreiben sich an der Uni viele ein, obwohl sie das Fach gar nicht interessiert. „Viele wollen in Wirklichkeit keine echt akademische Bildung – sie wollen Respekt und Ansehen“, schreibt Dollase. Ein falscher Bildungsdünkel, der Folgen hat: Knapp ein Drittel (28 Prozent) bricht das Bachelorstudium ab.
Dieser Bildungsdünkel ist weit verbreitet und zeigt sich, wenn Lokalzeitungen nur die Namen von Abiturienten und Abiturientinnen veröffentlichen, als wäre erst dieser Schulabschluss eine öffentliche Würdigung wert. Er zeigt sich, wenn Dirk Rossmann, der zu den reichsten Menschen Deutschlands gehört, im Interview gefragt wird, ob er bereue, „nur“ den Hauptschulabschluss und kein Abitur gemacht zu haben, so wie erst kürzlich. Solche Fragen insinuieren, dass es ein Mangel ist, kein Abitur zu haben.
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Rossmann baute nach einer Lehre zum Drogisten ein Imperium auf. Auch Robert Geiss gründete nach der Hauptschule das Modegeschäft Uncle Sam. Der Rest ist Geschichte. Inzwischen kann man den Reichtum der Familie im Fernsehen verfolgen. Rossmann und Geiss wären vermutlich die ideale Besetzung für eine Gastprofessur in BWL an der Uni. Bildungsdünkel gipfelt in der skandalösen Frage, ob jemand ohne Abitur Kanzler werden könne, die Journalisten 2017 aufwarfen, als Martin Schulz (SPD) kandidierte.
Lehrlingsmangel verstärkt Fachkräftemangel
Handwerker, die Fenster im 20. Stock einsetzen können, brauchen keine zwei Fremdsprachen oder das kleine Latinum. Sie verlassen die Schule halt ein paar Jahre früher, und zwar, weil sie dringend gebraucht werden. Der Lehrlingsmangel von heute wird den Fachkräftemangel, der jetzt schon herrscht, verstärken. Nie zuvor mussten die Menschen in Deutschland so lange auf Handwerker warten. In Mitteldeutschland dauert es Wochen, mitunter sogar Monate, bis ein Handwerksbetrieb anrückt, wie der MDR herausgefunden hat.
Der Sender befragte 22.000 Menschen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nach ihren Erfahrungen. Zwei von drei Handwerksbetrieben klagten darüber, dass sie offene Stellen schon jetzt nicht besetzen können. Im Westen ist die Lage ähnlich. In Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, müssen Menschen im Schnitt knapp zehn Wochen warten, bis sie einen Handwerker finden, wie die Handwerkskammer Düsseldorf schreibt. Dass Handwerker Akademiker beim Gehalt überholen dürften, wenn sie noch rarer werden, scheint absehbar. Trotzdem ist die Zahl der abgelegten Meisterprüfungen innerhalb von 20 Jahren von 9,3 Millionen auf 6,9 Millionen gesunken.
Kfz-Meister Patrick Lippick sucht für 2025 wieder zwei Lehrlinge. „Wir haben genug Arbeit“, sagt er. Seine Firma gehört zu den ganz wenigen in Deutschland, die sich darauf spezialisiert hat, die Mercedes G-Klasse zu erhalten. „Unser Lehrling lernt hier alles – vom Karosseriebau, übers Lackieren, Mechanik, Autosattlerei, der ist in jedem Thema drin.“ Und das Angebot mit dem alten Mercedes gilt auch im nächsten Jahr.