Weniger Bildschirmzeit: Warum Dänemark bei Digitalisierung in Schulen die Rolle rückwärts macht

Lernen mit Tablet, Laptop und Handy: Die Dänen galten lange als Vorreiter in der Digitalisierung in Klassenzimmern. Ausgerechnet Dänemark will nun weniger Bildschirme in Schulen.

Tablet raus, Klassenarbeit! So lautete lange die Devise in dänischen Klassenzimmern. Das skandinavische Land setzte früh auf die Digitalisierung der Schulen. Lernen mit Smartphones, iPads und Laptops sollte das Maß aller Dinge sein. Viele Länder blickten deshalb bewundernd nach Dänemark.

So sieht die Zukunft des Lernens aus, da waren sich viele einig. Auch in Deutschland galt der nördliche Nachbar als leuchtender Stern am digitalen Himmel. Dass wir Deutschen bei der Digitalisierung hinterherhinken, ist kein Geheimnis – auch bei den Dänen nicht. Sie amüsieren sich köstlich über die deutsche Faxkultur.PAID STERN 2020_14 Die neuen Schulaufgaben_15.40Uhr

„Konterrevolution“ im digitalen Dänemark

Spätestens mit der Coronapandemie wurde deutlich, dass Deutschlands Bildungssystem bei der Digitalisierung Aufholbedarf hat. Homeschooling und digitale Kommunikationstools wie Zoom und Teams waren Neuland. Deutsche Schulen waren schlecht ausgerüstet, Laptops sowie Tablets für alle Schüler die Ausnahme. 

Oh, wie schön muss es da doch in Dänemark sein!

Doch ausgerechnet die digitalen Dänen vollziehen die Kehrtwende. Die Zeit vor dem Bildschirm soll beim Lernen deutlich weniger werden. Das will der dänische Kinder- und Bildungsminister Mattias Tesfaye erreichen. Sogar von einer „Konterrevolution“ ist die Rede. STERN PAID 30_23 AbiturientInnen 8.06 16.00 

Minister: Schulden Generation „eine große Entschuldigung“

Bereits im Dezember 2023 äußerte er sich in der Zeitung „Politiken“ kritisch zum bisherigen Kurs. „Unsere Kinder sollten keine Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment sein, dessen Ausmaß und Folgen wir nicht absehen können“, sagte der Sozialdemokrat. Statt auf Bücher zu setzen, habe man Kindern „bei der Einschulung iPads in die Hand gedrückt“. Man schulde dieser Generation „eine große Entschuldigung“. Man sei „begeistert und naiv“ an die Digitalisierung herangegangen.

Mehrere Studien und Untersuchungen, die seit 2023 veröffentlicht wurden, brachten das Prinzip des digitalen Lernens ins Wanken.

Die PISA-Studie von 2022 zeigt, dass die Lese- und Mathematikkenntnisse der Schülerinnen und Schüler stark gesunken sind und unter dem Niveau der Jahrtausendwende liegen. Laut der aktuellen PISA-Studie sind die Schüler-Leistungen weltweit gesunken, aber die der dänischen Schüler liegen immer noch über dem OECD-Durchschnitt im oberen Bereich – und vor Deutschland.

Studie: Zu viel Bildschirmzeit verringert Konzentration

Die Studie zeigte auch, dass dänische Schüler weltweit die meiste Zeit vor dem Bildschirm verbringen, fast doppelt so viel wie der OECD-Durchschnitt. Im Durchschnitt nutzen dänische Schüler 3,8 Stunden pro Tag digitale Werkzeuge für Lernaktivitäten in der Schule.

Eine Literaturstudie des Nationalen Instituts für öffentliche Gesundheit, veröffentlicht im Januar dieses Jahres, ergab, dass Kinder und Jugendliche, die viel Zeit mit Smartphones, Spielen, Filmen oder sozialen Medien verbringen, Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren. 

Demnach treten Konzentrationsprobleme vor allem dann auf, wenn Kinder und Jugendliche gleichzeitig Hausaufgaben machen oder am Unterricht teilnehmen und sich dabei mit digitalen Medien beschäftigen. Auch die gleichzeitige Nutzung mehrerer digitaler Medien im Lernkontext ist mit Konzentrationsschwierigkeiten und schlechteren schulischen Leistungen verbunden.

Ob Lernprogramme mit Bildungsinhalten die Konzentration beeinträchtigen, wurde allerdings nicht untersucht.Digitalisierung an Schulen   15.30

Handyfreie Schulen werden empfohlen

Mit einem „Vorsorgeprinzip“ und neuen Empfehlungen will die Regierung die Bildschirmzeit von Kindern reduzieren. Dies führte bereits zu strengeren Rahmenbedingungen für die Bildschirmnutzung in Kindertagesstätten. Kinder unter zwei Jahren sollen generell vom Bildschirm ferngehalten werden, Kinder zwischen drei und fünf Jahren sollen ihn nur sehr eingeschränkt nutzen dürfen.

Im Februar veröffentlichte die dänische Bildungs- und Qualitätsagentur dann zwölf Empfehlungen für die Bildschirmnutzung in Grundschulen und Freizeiteinrichtungen. Die Grundschulzeit in Dänemark umfasst zehn Jahre, bestehend aus einer „Kindergartenklasse“ oder „0. Klasse“ und den Klassen 1 bis 9.

Zu den Empfehlungen gehören die Einrichtung einer handyfreien Schule, das Sperren nicht relevanter Internetseiten oder das Wegschließen von Handys und Tablets, wenn sie nicht benötigt werden. Bildschirme sollen nur dann eingesetzt werden, wenn sie didaktisch und pädagogisch sinnvoll sind. Stattdessen soll mehr Raum für analoges Lernen geschaffen werden. „Die Schule sollte keine Erweiterung des Jugendzimmers sein. Holt euch das Klassenzimmer zurück. Das ist die Botschaft“, kommentierte Minister Tesfaye die Empfehlungen. Die Digitalisierung sei zwar gut gemeint, habe aber dem Unterricht geschadet.Interview Haushalt Digitalisierung 14.55

Kritik an technischer Umsetzung

Verbindliche Regelungen von staatlicher Seite soll es aber vorerst nicht geben – anders als etwa in Schweden, wo die Regierung die Schulen fast komplett handyfrei machen will. Dort haben Lehrer bereits das Recht, Smartphones während des Unterrichts einzusammeln.

Tesfaye halte es für besser, wenn er und die Regierung eine neue Richtung vorgeben, es aber den Gemeinden, Schulen und Haushalten überlassen, lokale Lösungen zu finden. „Ich denke, dass die wirksamste Politik diejenige ist, die auf lokaler Ebene durchgeführt wird. Wenn die Schulleitung darüber diskutiert, nachdem sie Schüler und Lehrer einbezogen hat. Denn dann ist auch die Bereitschaft größer, die Regeln durchzusetzen“, sagte er der „Politiken“.

Es gibt aber auch Kritik an den Empfehlungen. Claus Hjortdal, Vorsitzender des dänischen Schulleiterverbandes, sieht die technische Umsetzung skeptisch. „Wir sehen, dass die Schüler die Firewalls relativ leicht umgehen können, indem sie ihr eigenes Netzwerk aufbauen, das sie gemeinsam nutzen können“, erklärte er im Februar der „Politiken“.

Auch die dänische Schülervereinigung hält nicht viel von Firewalls. Und von Handyverboten noch weniger. Sie fordern einen anderen Ansatz: „Soziale Medien sind auch nach der Schule zugänglich und lenken ab. Deshalb ist es wichtig, dass wir im Unterricht lernen, mit Handys umzugehen“, sagte die Vorsitzende Laura Drachmann Poulsen der Zeitung.Bundesnetzagentur Fax 13.36

Balanceakt der Digitalisierung

Nach einer Schrecksekunde wagt Dänemark einen neuen Balanceakt zwischen analogem und digitalem Lernen, bei dem es lange wackeln wird, bis das richtige Gleichgewicht gefunden ist.

Das Gleichgewicht zwischen Technologie und ihren Vorteilen auf der einen Seite – und Büchern, Gruppenarbeit und Tischtennis in der großen Pause auf der anderen. Die Technik darf das Lernen aber nicht dominieren, das haben die Dänen verstanden. Es bleibt abzuwarten, wie viel die Empfehlungen für die Grundschulen letztlich bringen werden, denn auch sie sind mehr oder weniger experimentell. 

Der dänische Schritt kam sicherlich überraschend. Doch das Land hat gezeigt, dass es sich lohnen kann, Entscheidungen zu überdenken und anzupassen. Und ist das nicht letztlich die wichtigste Lektion?

Rune Weichert arbeitet derzeit im Rahmen eines Stipendiums in Kopenhagen und schreibt auch für die Zeitung „Berlingske“.