Der jüngste Messeranschlag dürfte der AfD bei den Wahlen in Sachsen und Thüringen nützen. Die Sperrminorität rückt näher – und damit zumindest eine indirekte Machtbeteiligung.
Drei Menschen mit einem Messer ermordet. Mehrere Menschen schwer verletzt. Auf einem friedlichen, der Vielfalt gewidmeten Stadtfest. Der mutmaßliche Täter: ein syrischer Mann, der eigentlich abgeschoben werden sollte, aber entkam.
Damit entspricht das, was in Solingen geschah, exakt dem Szenario, das die AfD seit Jahren beschwört. So wie im Frühjahr der Mannheimer Messer-Anschlag der Partei bei der Europawahl half, könnte ihr nun die neuerliche Terrortat bei den anstehenden Landtagswahlen nützen.
Die Krise als Geschenk für die AfD
Die AfD setzt seit knapp einem Jahrzehnt erfolgreich auf das Migrationsthema. Der extreme Kern ihrer Ideologie ist die Verschwörungsthese einer gezielt eskalierenden Zuwanderung, um die kulturelle Identität der Deutschen auszulöschen. AfD-Politiker sprechen von „Überfremdung“ oder „Umvolkung“ – oder wie der thüringische Landeschef Björn Höcke vom „Volkstod durch Bevölkerungsaustausch“. Die Skandalisierung von „Massenvergewaltigungen“, „Messermännern“ und „Angsträumen“ ist ein fester Bestandteil der Parteipropaganda.
Die Warnung vor blutrünstigen Fremden ordnet sich zudem passgenau ein in die Gesamterzählung der AfD einer ökonomisch und sozial schädlichen Migration. „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern“, rief Bundeschefin Alice Weidel schon 2018 im Bundestag.
Die Demagogie funktioniert. Mit jedem Anstieg der Zuwanderung und jedem Anschlag wächst der Zulauf zur AfD und verbreitert sich ihre Basis. Bereits im sogenannten Flüchtlingsherbst 2015, der die AfD aus einem existenziellen Umfragetief nach oben katapultierte, sagte der spätere Parteichef Alexander Gauland: „Man kann diese Krise ein Geschenk für uns nennen. Sie war sehr hilfreich.“
Aus dieser zynischer Perspektive dürfte auch der Anschlag von Solingen ein Geschenk für die AfD sein. Vor allem der Zeitpunkt der Tat ist günstig. In knapp einer Woche werden die Landtage in Sachsen und Thüringen gewählt – und bis dahin wird auch die Debatte über die Konsequenzen mindestens andauern.
Schon jetzt hat die AfD in allen drei Ländern die Chance auf Platz 1. Insbesondere in Thüringen, wo die Parteienlandschaft besonders fragmentiert ist, scheint der Partei kaum noch der Sieg zu nehmen.
Darüber hinaus könnte es der AfD mit den ihr prognostizierten 30 Prozent gelingen, die sogenannte Sperrminorität in beiden Parlamenten zu erringen. Käme sie auf mehr als ein Drittel der Sitze, könnte sie Verfassungsänderungen oder Richterwahlen blockieren – oder müsste von den anderen Fraktionen eingebunden werden.
Die Sperrminorität als wirkmächtiger Hebel
Am 1. September wird es nur an wenigen tausend Stimmen hängen, ob die AfD diesen wirkmächtigen Hebel erhält und ob in Thüringen überhaupt eine Mehrheit gebildet kann. Oder anders formuliert: Solingen könnte die Wahlen entscheiden.
Dies gilt umso mehr, da die Themen Gewalt und Migration schon vor den jüngsten Morden den öffentlichen Diskurs dominierten. Laut einer aktuellen Umfrage von Forsa im Auftrag von RTL und dem stern ist für 68 Prozent der Sachsen die „Kriminalität und Gewalt in der Gesellschaft“ die größte Sorge. 60 Prozent problematisierten die „Zuwanderung von Flüchtlingen und Geflüchteten“, bei den AfD-Wählern waren es sogar 90 Prozent. In Thüringen fielen die Antworten ähnlich aus.
Forsa-Grafiken-Landtagswahlen 12.52
Umso entschlossener nutzt die AfD jetzt die Morde von Solingen für ihren Wahlkampf. Noch am Abend des Anschlags appellierte Höcke an „Deutsche, Thüringer“, sich selbst zu befreien und den „Irrweg der erzwungenen Multikulturalisierung“ zu beenden. Er schloss den Post auf X mit dem Satz: „Am 1.9. die Wende wählen“.
Auch deshalb versucht die Union hektisch, das Thema noch stärker zu besetzen. CSU-Chef Markus Söder forderte schnellere Abschiebungen, und der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz schrieb in einer E-Mail an die Parteimitglieder. Zentraler Satz: „Nach Syrien und Afghanistan kann abgeschoben werden, weitere Flüchtlinge aus diesen Ländern nehmen wir nicht auf.“
Schon Ende Juli hatte der thüringische CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt die Richtung vorgegeben. „Wir können nicht mehr wie bisher jeden aus Syrien aufnehmen“, sagte der Landesparteichef dem stern. „Und wir müssen wieder nach Syrien abschieben.“
Die Union ist gewarnt. Schließlich führte der Europawahlkampf vor, wie ein islamistischer Anschlag der AfD in der heißen Phase bei der Mobilisierung half. Die Partei hatte wegen der Affären um ihre Spitzenkandidaten und der neuen Konkurrenz durch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) einen schlechten Lauf, bis zehn Tage vor dem Wahltermin ein Mann in Mannheim auf mehrere Menschen einstach. Ein Polizeibeamter starb.
Von 14 Prozent auf knapp 16 Prozent
Auch hier war der mutmaßliche Täter ein Flüchtling. Und auch hier war der Asylantrag des gebürtigen Afghanen abgelehnt worden – was die AfD auf allen Kanälen anprangerte. Gleichzeitig stritt ihr Bundesvize Stephan Brandner empört ab, dass es sich um Wahlkampf handele. Auch das gehört zur Strategie.
Am Ende kam die AfD, die noch Ende Mai in den meisten Umfragen bei 14 Prozent gestanden hatte, bei der Wahl am 9. Juni auf knapp 16 Prozent – und damit auf den psychologisch wichtigen Platz 2 hinter CDU und CSU. In Ostdeutschland lag sie flächendeckend vorne.
Nicht nur die Wahlforscherin Andrea Römmele sah einen Zusammenhang zwischen Mannheim und dem Wahlergebnis. „Besonders anfällig sind natürlich diejenigen, die keine klare Parteipräferenz haben“, sagte sie.
Voigt fordert Abschiebungen von Syrern 9.55
Zahl der Messerangriffe steigt
Allerdings, die AfD vermag auch deshalb das Thema auszubeuten, weil sie an Tatsachen anknüpfen kann. Ein gutes Drittel aller Straftaten in Deutschland wurde im vergangenen Jahr mit ausländischen Tatverdächtigen in Verbindung gebracht. Dabei sind die typischen ausländerrechtlichen Verstöße bereits herausgerechnet, während der Anteil von Ausländern nur bei gut 15 Prozent liegt. Die Zahl der Messerangriffe stieg im vergangenen Jahr um knapp zehn Prozent auf fast 9000.
Selbst in den Ampel-Parteien SPD und FDP wird gefordert, dass Zuwanderung begrenzt und gesteuert werden muss sowie kriminelle Ausländer abgeschoben werden sollten. Und über alle politische Grenzen hinaus besteht Einigkeit, dass der islamistische Terror konsequent bekämpft werden muss.
Solingen als Symbol staatlicher Ohnmacht
Doch bislang blieb es vor allem bei Ankündigungen. Die Abschiebungen stiegen um 30 Prozent, aber auf niedrigem Niveau, die Mehrzahl der Rückführungen scheitert weiterhin. Auch das von Innenministerin Nancy Faeser geplante Messerverbot bringt wenig, wenn schon ein Küchenmesser aus dem Flüchtlingsheim dazu reicht, drei Menschen ihr Leben zu nehmen.
Unabhängig davon, dass es gerade für dieses Problem keine einfachen Lösungen gibt, wirken die Morde auf dem Stadtfest in Nordrhein-Westfalen wie ein Symbol staatlicher Ohnmacht. Der Sozialforscher Marc Helbing verwies nach dem Anschlag in Mannheim darauf, dass die Unsicherheit nach Anschlägen erfahrungsgemäß dazu führe, dass die jeweilige Regierung abgestraft würde.
Falls also die AfD in Sachsen und Thüringen sogar noch über den ihr zuletzt prognostizierten Werten landen sollte, wäre zumindest schon mal eine Erklärung rasch zu finden. Sie lautet: Solingen.