Paris 2024: Innovation auf der Überholspur: So High-Tech sind die Paralympics

High-Tech-Methoden und schnelle Reparaturen von Sportprothesen sind entscheidend für den Erfolg der paralympischen Athleten. In Paris können die Zuschauer auf neue Rekorde hoffen. 

Als der belgische Rollstuhlsprinter Peter Genyn 2021 bei den Paralympics in Tokio seinen Titel im 100-Meter-Finale verteidigen wollte, traf ihn 45 Minuten vor dem Rennen der Schock: Sein Rollstuhl hatte drei platte Reifen und einen beschädigten Rahmen. Sabotage. Was zunächst wie das Ende seiner Teilnahme schien, wurde in letzter Minute von einem engagierten Team abgewendet. Die Reifen wurden ersetzt, ein neuer Rahmen organisiert und der Sitz provisorisch mit Klebeband befestigt. „Wir haben Teile von verschiedenen Rollstühlen genommen. Das ganze Team hat zusammengearbeitet. Es war unbeschreiblich“, berichtete Genyn in einem Interview mit der „Sportschau“. Er gewann das Rennen und damit sein zweites paralympisches Gold. 

Dass dies möglich war, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis des Engagements von Hunderten Mitarbeitern der paralympischen Werkstatt, die täglich bis zu 200 Prothesen, Rollstühle und andere Ausrüstungen reparieren.

Bei den Paralympics sind die meisten Athleten auf technische Hilfsmittel angewiesen. Seit 1988 sorgt das deutsche Orthopädietechnik-Unternehmen Ottobock dafür, dass die Ausrüstung einwandfrei funktioniert. Mit über 160 Experten aus mehr als 40 Ländern kümmert sich das Unternehmen um das Equipment der 4400 Athleten und repariert nicht nur eigene Produkte, sondern auch Geräte anderer Hersteller. Es hat eine Vielzahl an Ersatzteilen vor Ort, um Reparaturen durchzuführen.

In der paralympischen Werkstatt beschäftigt das deutsche Orthopädietechnik-Unternehmen Ottobock über 160 Mitarbeiter aus aller Welt, die das High-Tech-Equipment der 4400 Athleten anpassen und reparieren
© Daniel Ernst/ Ottobock

Von 3D-Druck bis Schweißtechnik

In der von Ottobock betriebenen Werkstatt können Körperteile eingescannt und dann im 3D-Drucker die speziellen Passteile ausgedruckt werden. Aber nicht alles ist digitalisiert. Genau so wichtig wie der 3D-Drucker sind traditionelle Reparaturen. Die Werkstatt verfügt über eine Thermoplast-Abteilung, die Materialien wie Kunststoffe verarbeitet, eine Schweißanlage für Metalle wie Aluminium, Stahl und Titan sowie eine Schneiderei für Textilien. Hier werden Reparaturen von Rollstuhlreifen bis hin zu hochpräzisen Prothesenanpassungen durchgeführt. Tausende von Prothesen sind im Lager vorrätig, um eine schnelle und effiziente Anpassung sicherzustellen.

Zwischen High-Tech-Optimierung und strengen Regeln 

Im Gegensatz zu Alltagsprothesen, bei denen die Optik und das unauffällige Erscheinungsbild wichtig sind, spielen bei Sportprothesen solche ästhetischen Aspekte keine Rolle. Hier stehen Leistung und Funktionalität im Vordergrund. Sportprothesen müssen extremen Anforderungen gerecht werden: Während Alltagsprothesen mitunter das Zwei- bis Dreifache des Körpergewichts tragen, sind es bei professionellen Wettkämpfen wie Laufen und Springen sogar das Fünffache. „Damit die Athleten diese Höchstleistungen erbringen können, wird jedes Detail optimiert. Was nicht zwingend nötig ist, wird weggelassen. Jede Schraube wird abgewogen, um gegebenenfalls Gewicht zu sparen und die Aerodynamik zu maximieren“, erklärt Orthopädietechniker-Meister Julian Napp im Interview mit dem stern. Sportprothesen bestehen meist aus komprimiertem Carbon. Das ist biomechanisch so ausgelegt, dass es eine optimale Energierückgabe ermöglicht und den Athleten so zu besserer Leistung und höherer Geschwindigkeit verhilft. 

Dennoch gibt es klare Grenzen: Während Paraathleten im Training digitale High-Tech-Systeme mit Sensoren und KI-gestützter Software zur Analyse und Optimierung ihrer Bewegungen nutzen können, dürfen Sportprothesen im Wettkampf nur durch muskuläre Kräfte bewegt werden. Athleten, die ihre Prothesen im Wettkampf mit elektronischen Hilfsmitteln unterstützen, würden disqualifiziert. Diese Regelung wird strikt durchgesetzt, wie Julian Napp erklärt.

Ohne High-Tech keine Paralympischen Spiele: Orthopädietechniker-Meister Julian Napp sorgt in der Paralympischen Werkstatt für die Reparatur und Optimierung von Prothesen
© Daniel Ernst/ Ottobock

So wird die Leistung der Athleten verglichen

Da Athleten mit unterschiedlichen Arten und Graden von Behinderungen oft in derselben Disziplin antreten, ist es entscheidend, klare Regeln einzuhalten, um faire Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten. Die Klassifizierung der Athleten stellt sicher, dass sie entsprechend ihrer Fähigkeiten gegeneinander antreten, um Chancengleichheit zu ermöglichen. 

So wird beispielsweise die Anzahl der Spikes an den Prothesensohlen sowie die Länge der Prothesen nach einem genauen Messsystem festgelegt. Bei doppelt amputierten Leichtathleten, die keine Beine haben und an Laufwettbewerben teilnehmen möchten, wird die potenzielle Körpergröße ohne Behinderung anhand von Armlänge und Spannweite berechnet. Dadurch wird sichergestellt, dass die Beinprothesen nicht länger sind als die Beine der Athleten bei natürlicher Entwicklung wären. So entsteht durch die Verwendung der Prothesen weder ein Vorteil noch ein Nachteil.

Für einseitig amputierte Athleten gibt es hingegen keine derartigen Kontrollen. Hier müssen die prothetischen Körperteile präzise an das verbliebene natürliche Körperteil angepasst werden, erklärt Napp. Eine abweichende Anpassung würde dem Sportler sogar einen Nachteil verschaffen.

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Die Entwicklung im Parasport der letzten Jahrzehnte 

In den letzten zehn bis 20 Jahren gab es im Bereich der Sportprothesen nur begrenzte Materialentwicklungen. Die echte Innovation im Parasport liegt vielmehr in der Weiterentwicklung des Sports selbst. Während im herkömmlichen Leistungssport bestimmte Entwicklungen längst etabliert sind, haben sie im Parasport erst kürzlich Fuß gefasst. Die Professionalisierung der Athleten und die Verbesserung der Trainingsbedingungen stehen dabei im Mittelpunkt. Ein Beispiel hierfür sind die neu gegründeten Nachwuchszentren für Parasportler, die vor einigen Jahren noch undenkbar waren. Diese Zentren bieten jungen Talenten die Möglichkeit, sich auszuprobieren und ermöglichen es Trainern, gemeinsam mit ihren Athleten neue Trainingsmethoden zu entwickeln. Auch die Technik profitiert von dieser Professionalisierung: Prothesen können immer präziser an die individuellen Bedürfnisse der Athleten angepasst werden, was zu weiteren sportlichen Erfolgen führt

Ein Beispiel für diese Fortschritte zeigt sich im Vergleich zwischen den deutschen Weitspringern Heinrich Popow und Léon Schäfer. Während Popow 2016 in Rio in der Kategorie der einseitig Oberschenkelamputierten mit einem Sprung von 6,42 Metern Gold gewann, übertraf Schäfer nur vier Jahre später mit einem Sprung von 7,24 Metern als erster einseitig Oberschenkelamputierter die 7-Meter-Marke – ein bahnbrechender Erfolg im Parasport. Kürzlich setzte der Niederländer Joel de Jong mit einem beeindruckenden Weltrekord von 7,76 Metern neue Maßstäbe und verdrängte den Favoriten für die Paralympischen Spiele von Paris, Léon Schäfer, aus dem Rampenlicht.

Weitspringer Léon Schäfer hat auch in Paris Chancen auf eine Medaille.
© IMAGO / Mika Volkmann

„Parasportler sind ein Zufallsprodukt“

Trotz der technischen Fortschritte und Bemühungen im Parasport bleibt der Zugang zum Sport für viele Menschen mit Behinderung ein Privileg, das sich nur wenige leisten können. Heinrich Popow bezeichnet Parasportler daher als „Zufallsprodukt“, da der Weg zum Erfolg stark von finanziellen Möglichkeiten abhängt. Prothesen werden entweder durch Sponsoren finanziert oder müssen von den Athleten selbst bezahlt werden, was die Teilnahme am Sport für viele unmöglich macht. Deshalb fordert Popow, dass Menschen mit Behinderungen stärker gefördert und unterstützt werden, damit der Erfolg im Sport nicht vom Einkommen der Athleten abhängt.