Nach dem Rücktritt von Stahlsparten-Aufsichtsratschef Sigmar Gabriel eskaliert die Lage bei Thyssenkrupp. Dabei geht es schon lange nicht mehr allein um den Stahl.
Drama, Chaos, Intrigen, rollende Köpfe und wilde Wortgefechte: Was sich am Donnerstag rund um die Sitzung des Aufsichtsrats bei der Thyssenkrupp Steel Europe AG in Duisburg abspielte, erinnerte ein wenig an die Fernsehkultserie „Game of Thrones“. Ein Aufsichtsratschef, der sich selbst zum Arbeiterhelden stilisiert und sich bei seinem Rücktritt mit aller Kraft bemüht, nun auch noch den Mutterkonzern in den Abgrund zu stürzen. IG-Metall-Funktionäre, die zum Aufstand gegen den Konzernchef Miguel Lopez blasen. Grüne und rote Politiker, die auf die Barrikaden am Werkstor 1 steigen.
Doch wenn sich der Pulverdampf verzieht und der Wortnebel lichtet, bleibt eine ganz schlichte Erkenntnis: Thyssenkrupp kann es sich nicht mehr leisten, die Stahlsparte in nur leicht veränderter Form weiter mit Milliarden Euro am Leben zu halten. Die Forderungen, die der SPD-Politiker Sigmar Gabriel als Aufsichtsratschef gemeinsam mit seinem Stahlchef Bernhard Osburg durchsetzen wollte, überfordern schlicht die noch verbliebenen Möglichkeiten des Mutterkonzerns. Deshalb muss eine radikale Lösung her, verbunden mit einer Halbierung der Produktion in Duisburg und (leider) vielen Tausenden Entlassungen.
Seit 15 Jahren wehren sich die Manager des Ruhrkonzerns gegen die bittere Erkenntnis, dass es nicht mehr mit kleineren Kapazitätsanpassungen getan ist. Man kann dem jetzigen Konzernchef Lopez sicherlich taktische Fehler und Kommunikationspannen vorwerfen. Aber in der Sache hat der bullige Spanier recht. Er ist der erste CEO, der sich der Lage nicht mehr mit Wolkenschiebereien nähert, sondern mit brutalstmöglichem Realismus. Dass er dabei mit vielen Verantwortlichen zusammenstoßen musste, war von Anfang an klar – vor allem mit Gabriel. Der eitle SPD-Mann, dem es zuallererst immer um die eigene Person und ihrem Glanz in der Öffentlichkeit geht, war von Anfang an fehl am Platz.
Viele Baustellen bei Thyssenkrupp
Würde sich Lopez den Wünschen seiner Stahlsparte beugen, gefährdet er den gesamten Konzern. Die Milliarden aus dem Verkauf der profitablen Aufzugssparte sind fast aufgebraucht – und allen Ecken und Enden des Konzerns fehlt Geld für dringend notwendige Investitionen. Den Betriebsräten der Stahlsparte ist das völlig egal. Lopez solle andere Konzernteile doch verkaufen, so lautet ihre Logik, um die Hochöfen in Duisburg zu retten. Sie reden viel über die 28.000 Arbeitsplätze in der Stahlsparte, aber so gut wie niemals über die 73.000 anderen Beschäftigten des Konzerns.
Es läuft an vielen Stellen nicht rund bei Thyssenkrupp. Ein Blick in die letzten Quartalszahlen unterstreicht das Problem: Danach musste nicht nur der Stahlbereich unterm Strich Mittelabflüsse verkraften (minus 111 Mio. Euro), sondern auch die wichtige Automobilsparte (minus 25 Mio. Euro). Das neu gebildete und mit vielen Vorschusslorbeeren gestartete Geschäftsfeld „Decarbon Technologies“ bewegte sich beim operativen Cashflow an der Nulllinie. Freie Mittel erwirtschafteten nur die Marinesparte (vor allem wegen hoher Anzahlungen auf neue Aufträge) und der Metallhandel, der seit Jahren als sichere Bank gilt. Allerdings fällt selbst dort nur eine Gewinnmarge von gerade einmal ein bis zwei Prozent an.
Gelingt es den Widersachern, den Lopez-Plan für die Stahlsparte zu verhindern, blickt Thyssenkrupp in eine tieftraurige Zukunft. Man könnte von der Dialektik des Widerstands sprechen: Je erfolgreicher sich die Stahlarbeiter wehren, umso mehr Arbeitsplätze fallen am Ende im Gesamtkonzern weg.