Die Grünen versuchen den Befreiungsschlag, SPD und FDP fragen sich, wie es weitergehen soll mit der Ampel. Innenansichten einer abgekämpften Koalition.
Omid Nouripour wirkt angefasst. Bricht ihm gleich die Stimme? Den Eindruck kann man bekommen. Der Grüne steht neben seiner Co-Vorsitzenden Ricarda Lang in der Parteizentrale und verkündet einen drastischen Schritt: „Es ist Zeit, die Geschicke dieser großartigen Partei in neue Hände zu legen“, sagt er.
Keine drei Jahre lang haben Nouripour und Lang die Grünen geführt, nun treten sie ab und der gesamte Vorstand gleich mit. Ihr Rückzug soll der Versuch eines Befreiungsschlags sein, angesichts der jüngsten Wahlniederlagen und miesen Umfragen neue Dynamik entfachen. Es brauche „neue Gesichter, um die Partei aus dieser Krise zu führen“, sagt Lang.
Was bedeutet das für die Ampel? Das grüne Beben erschüttert auch die Koalitionspartner von SPD und FDP. Alle drei sind sie vom gemeinsamen Regierungsbündnis gequält, schleppen sich von Streit zu Streit und werden dafür in den Umfragen und bei Wahlen abgestraft. Die Grünen haben nun die Konsequenzen daraus gezogen – sollten das SPD und FDP dann nicht auch tun? Diese Frage steht im Raum, der Druck auf die anderen steigt. Schließlich zeigt der Rückzug von Lang und Nouripour auch, wie schwer und grundsätzlich die Ampel-Krise ist.
„Was die FDP macht, ja, meine Güte, also, ähm…“
Am Vorabend ist von all dem nichts zu spüren, im Gegenteil: Die Ampel-Partner präsentieren sich in seltener Eintracht, geradezu harmonisch. Das „Netzwerk Berlin“ hat zur Party an den Spreespeicher geladen. Die SPD-Fraktionsströmung, die ihr Selbstverständnis im Namen trägt, feiert ihr 25-jähriges Bestehen. Es gibt ein Grußwort von Bundeskanzler Olaf Scholz, auch Finanzminister Christian Lindner hält eine launige Rede, für die Grünen spricht Katharina Dröge, die Co-Fraktionsvorsitzende. Sie ist offenkundig für Ricarda Lang eingesprungen, die laut Einladung ursprünglich als Rednerin vorgesehen war.
Scholz betont die „Idee des Fortschritts“, die sich die Koalition zum Thema gemacht habe, Dröge den „wahnsinnigen Wert“ von Kompromissen, die man in dieser komplizierten Konstellation noch immer geschafft habe. Und ausgerechnet Lindner, der widerspenstige FDP-Chef, moniert die „wechselseitigen Blockaden von Vorhaben“ als unschöne Ablenkung der eigentlich guten Ampel-Arbeit. Man ist an diesem Dienstagabend wieder ganz bei sich. Das anstrengende Miteinander? Ist ganz weit weg.
Dabei sind die Fliehkräfte in der Koalition enorm, von einem Ampel-Teamgeist kann kaum noch die Rede sein. Nach den Landtagswahlen in Brandenburg, die bundespolitisch praktisch keine Gewinner kannte, ist die Stimmung, die Motivation, gemeinsam Dinge anzuschieben, an einem neuen Tiefpunkt angelangt. Es werden Ultimaten gestellt, rote Linien gezogen und sogar der mögliche Bruch offen in Aussicht gestellt, um die jeweils eigenen Lieblingsprojekte bis zur nächsten Bundestagswahl noch durchzuboxen, die regulär in zwölf Monaten stattfindet. Ob die Ampel bis dahin durchhält?
FDP-Chef Lindner hat schon einen „Herbst der Entscheidungen“ für die Koalition ausgerufen, sollte es bei drei Themen nicht vorangehen, die den Liberalen wichtig sind: Migration, Wirtschaft, Haushalt. Sonst? Tja. Es war jedenfalls nicht völlig aus der Luft gegriffen, als der nunmehr scheidende Grünen-Vorsitzende festhielt: Den großen Feng-Shui-Moment, also einen harmonischen Augenblick, wird die Ampel wohl nicht mehr erleben.
Bei dieser Gemengelage scheint selbst Rolf Mützenich, der stets auf Ausgleich bedachte SPD-Fraktionschef, mit seinem Latein am Ende zu sein. Er steht am Dienstagmittag im Bundestag und ringt um die richtigen Worte, als er nach den jüngsten Ansagen der FDP gefragt wird. „Was die FDP macht, ja, meine Güte, also, ähm…“, setzt Mützenich an. Er überlegt. Und überlegt. „Es hilft doch niemandem, wenn man immer radikaler in der Sprache wird“, sagt er schließlich.
SPD Klingbeil Investitionen 6.15
Ob er einen Koalitionsbruch befürchte? Die SPD wolle an der Koalition festhalten, bekräftigt Mützenich, ein Ausstiegsszenario gebe es nicht. „Wenn es das an anderer Stelle gibt, kann ich keinen daran hindern, aber ich will ihn auch nicht ermutigen.“ Angesprochen auf den Feng-Shui-Moment, sagt der Sozialdemokrat nur: Wenn andere in der Arbeit im Bundestag eine Last sähen oder sich nach Therapiemöglichkeiten umschauten, dann sei das deren Sache, „aber nicht meine“.
Dabei ist auch die SPD längst im Wahlkampfmodus, will etwa beim Rentenpaket „kein Verschieben oder Verzögern“ mehr dulden, wie SPD-Chef Lars Klingbeil klarstellte. Sicher auch vor dem Hintergrund, dass genau das passieren könnte: Das Gesetz geht am Freitag zwar in erster Lesung ins Parlament, aber die FDP-Fraktion hat längst Redebedarf angemeldet. Auch im Kampf um Industriearbeitsplätze schalten die Sozialdemokraten auf Attacke, fordern etwa vehement einen Industriestrompreis ein, den die FDP ablehnt. Der Kanzler bislang aber auch.
In der SPD-Fraktionssitzung soll Scholz nun deutlich gemacht haben, dass man sich auch um die Energiekosten kümmern müsse, berichten Teilnehmer. Auch habe der Kanzler bekräftigt, um jeden Industriearbeitsplatz kämpfen zu wollen. So, wie es Parteichef Klingbeil allen Abgeordneten in der Sitzung als Botschaft für ihre Wahlkreise mitgegeben habe. Die angeblichen Fluchtfantasien der FDP sollen nur am Rande eine Rolle gespielt haben. Die SPD konzentriert sich jetzt auf sich. All jene, die darauf warten, dass der Kanzler zum Befreiungsschlag ansetzt, wie auch immer der aussehen könnte, dürften nach den Entwicklungen bei den Grünen eher lauter werden als leiser.
Ist das die Rettung der Grünen?
Nur die Grünen konnten bisher keine Idee präsentieren, wie sie ihren Laden wieder in Schwung bringen sollen. Am Mittwoch spricht Nouripour von der „tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade“, für die er und Ricarda Lang nun den Kopf hinhalten. Alleinverantwortlich für die grüne Misere sind sie nicht.
Sie waren es schließlich nicht, die ein Heizungsgesetz fabrizierten, das vielen in der Bevölkerung die schlimmsten Vorurteile über die Grünen zu bestätigen schien. Das war Vizekanzler Robert Habeck, der nun Kanzlerkandidat werden soll. Fehler solchen Ausmaßes kann man bei der Parteispitze nicht finden. In den vergangenen Jahren arbeiteten Lang und Nouripour gut zusammen – für eine grüne Doppelspitze beinahe schon ein Wert an sich. Von der Parteilinken Lang schwärmten regelmäßig sogar die hartgesottensten Realos, von ihrer Intelligenz, ihrem politischen Talent.
Auf dem Grünen-Parteitag im November sollen ihre Nachfolger bestimmt werden, bis dahin üben sie das Amt kommissarisch aus. Noch ist offen, ob eine neue Parteispitze die Grünen tatsächlich wieder in besseres Fahrwasser führen kann. Doch immerhin bewegt sich etwas, so sieht es mancher Grüner.
In die Zeit der Neuaufstellung der kommenden Wochen wird wohl auch die offizielle Kür von Habeck zum Kanzlerkandidaten fallen. Daraus könnte tatsächlich eine neue Dynamik entstehen. Immerhin wird eine seiner engsten Vertrauten inzwischen für das Amt der Parteivorsitzenden gehandelt: Franziska Brantner vom Realo-Flügel, bislang Staatssekretärin in Habecks Wirtschaftsministerium. Dazu dürfte noch eine Person vom linken Flügel kommen. Brantner war bereits zuvor laut einem Bericht von „Table.Media“ die Rolle zugedacht worden, Habecks Wahlkampf zu managen.
Und so sind auch die Koalitionspartner von FDP und SPD noch einigermaßen ratlos, wie sie den Rückzug einzuordnen haben. Ist der Schritt nur ein Vorgeschmack, möglicherweise die Vorbereitung auf einen Koalitionsbruch? Oder doch nur ein internes Problem, also keines für die Ampel? Werfen sich die Grünen jetzt voll in die Arme von Habeck?
Offiziell bedanken sich die Spitzen von SPD und FDP für die gute Zusammenarbeit der letzten Jahre, das verlässliche und vertrauensvolle Miteinander – trotz inhaltlicher Differenzen. „Wir sind gespannt, ob unter neuer Führung ein neuer Kurs entsteht und welche Auswirkungen er auf die Regierung hat“, schreibt FDP-Chef Lindner auf X.
Sie wissen auch noch nicht, wohin die Reise geht. Unbeschwerlich war sie bisher jedenfalls nicht.