Sechs Jahre lang haben zwei Filmemacherinnen die Eltern von Serienmörder Niels Högel begleitet. Der Dokumentarfilm zeigt, wie das Leben unbescholtener Leute aus den Fugen gerät.
Wie lebt man damit, wenn der Sohn der schlimmste Serienmörder der deutschen Nachkriegsgeschichte ist? Fühlt man sich mitschuldig? Hält man zu ihm? Die Filmemacherinnen Katharina Köster und Katrin Nemec haben die Eltern von Niels Högel sechs Jahre lang begleitet und den Dokumentarfilm „Jenseits der Schuld“ gedreht, der zurzeit in den Kinos läuft.
300 Ermittlungsverfahren gegen Högel
Högel war Krankenpfleger in Delmenhorst und Oldenburg. Mindestens 87 Patienten hat er umgebracht. Er vergriff sich an wehrlosen Patienten und Patientinnen, die meist auf der Intensivstation lagen, gab ihnen Medikamente, die Herz-Kreislaufstillstand auslösten, um bei der Reanimierung den Helden zu spielen. Viele schafften es nicht und starben. Vermutlich hat er noch viel mehr Menschen auf dem Gewissen. Es gab über 300 Ermittlungsverfahren gegen ihn. Er habe eigentlich nie „Pause“ gemacht beim Töten, sagte Niels Högel vor Gericht. 2015 verurteilte ihn das Landgericht Oldenburg zu lebenslanger Haft und stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Die Aussichten, dass er je wieder rauskommt, sind gering.
Was sollen die Leute denken?
Trotzdem hofft sein Vater Didi Högel, selbst Krankenpfleger, dass sein Sohn vielleicht doch mal eine zweite Chance bekommt. Für die Familien der Opfer muss diese Szene verstörend wirken. Doch Didi Högel und seine Frau Ulla Högel sind sympathische, reflektierte Menschen, die mit sich ringen und mit ihrem Sohn. Der Film zeigt sie Silvester beim Feiern, auf der Kirmes tanzend, am Strand. Sie stoßen an, wünschen sich gegenseitig alles Gute. Ihre Wohnung ist tipptopp aufgeräumt, die Wände blassblau gehalten, Topfpflanzen, ein bisschen Nippes. Ganz normale Leute, halt.
Didi Högel, ein Hüne, arbeitet noch immer als mobiler Krankenpfleger, kümmert sich liebevoll um einen über 94-Jährigen, wäscht ihn, legt ihn ins Bett. All das sieht man im Film. Ulla Högel ist klein, dunkelhaarig, sehr gepflegt. Einmal sieht man sie ungeschminkt, bei der Morgentoilette, sie sieht verweint aus. Früher arbeitete sie beim Anwalt. Nun ist sie in Therapie, schluckt Psychopharmaka. Als im Fernsehen ein Bericht über ihren Sohn gezeigt wird und die Sprache darauf kommt, dass er noch viel mehr Menschen ermordet haben könnte, bricht sie in Tränen aus. Ihr Mann nimmt sie in den Arm. Ulla Högel zweifelt, ob es richtig war, dem Film zuzustimmen. Was sollen die Leute denken? Dass sie Geld machen wollen? Der Vater hat Herzbeschwerden.
Ein Leben gerät aus den Fugen
Es ist gut, dass die Eltern die Dreharbeiten nicht abgebrochen haben. Denn dieser sensible, wirklich sehenswerte Film zeigt unaufdringlich und voller Mitgefühl, wie das Leben normaler, unbescholtener Leute aus den Fugen gerät, weil ihr Sohn zum Mörder geworden ist. Wie von einem Tag auf den anderen nichts mehr ist, wie es war. Ulla Högel erzählt, wie sie erfahren hat, dass ihr Sohn in U-Haft sitzt. Die Eltern wollten in den Urlaub fahren, Ulla Högel war gerade dabei, sich einen Badeanzug auszusuchen, als ihr Mann zu ihr sagte, es wäre besser, nach Hause zu fahren. Niels sei festgenommen worden. Zuerst ist da nur dieser eine Fall. Ein Mann. Dann werden es mehr und mehr Opfer. Der Albtraum wird größer und größer. Und mit ihm die Fragen: Wie konnte es so weit kommen?
Prozessauftakt Niels Högel 1030
Niels Högel verlebte eine normale Kindheit. Kinderfotos von Niels Högel werden gezeigt. Wie er beim Fußball im Tor steht und der Ball an ihm vorbeifliegt. Ein „ganz Lieber“ sei er gewesen, versichern die Eltern. „Man hat jahrelang gesagt: Hast du was verkehrt gemacht? Da habe ich mit abgeschlossen. Ich gebe mir keine Schuld. Man hat alles durchgespielt und durchdacht.“ Die Mutter spricht von sich in der dritten Person. „Macht ihr euch Vorwürfe, dass ihr es an irgendeiner Stelle hättet merken können?“, fragt die Stimme aus dem Off. „Nein, das weiß ich klar von mir. Das Einzige war seine Trinkerei“, sagt die Mutter. Der Vater stimmt zu. Niels Högel hat eine Tochter. Die Großeltern haben keinen Kontakt. Die Schwiegertochter hat ihn abgebrochen. Für die Eltern ist das wie eine „Strafe“.
Tägliche Telefonate mit dem Sohn im Knast
Fast täglich telefonieren die Eltern mit dem Sohn. Er meldet sich aus dem Knast, will Cola, einen Hoodie zu Weihnachten und einen Zeugenbeistand, als er im Prozess gegen seine ehemaligen Vorgesetzten aussagen soll. Der Vater telefoniert herum, hat aber keinen Erfolg. Die Anwältin redet Tacheles mit dem Vater. Da müsse der Sohn durch. Sie sagt ihm auch, dass der Sohn schwer gestört sei und „einen an der Waffel“ habe. Die Eltern widersprechen nicht. Sie hätten schon überlegt, ihren Namen zu ändern und wegzuziehen, sagt Ulla Högel im Film. „Aber wir haben hier unsere Wurzeln.“ Sie seien nie direkt auf die Morde ihres Sohnes angesprochen worden, erzählt der Vater und mutmaßt, dass die Leute hinter ihrem Rücken reden. Sie wünschen sich, dass es wieder so sein würde, wie früher. „Aber es ist vorbei.“
Regelmäßig besuchen sie den Sohn im Knast. Im Auto baumeln seine Babyschuhe vor der Windschutzscheibe. Die Eltern werden durchsucht, passieren Sicherheitsschleusen. Niels Högel ist im Film nicht zu sehen, nur undeutlich zu hören, wenn seine Eltern am Telefon mit ihm sprechen. Man würde nicht nur über die Taten sprechen, sondern über alles Mögliche, erzählt die Mutter nach einem der Besuche.
Wie lebt man mit so einem Schicksal? Die Antwort scheint einfach. Man muss. Es geht weiter. So oder so. Also machen die Eltern weiter, gehen arbeiten, putzen die Wohnung, kochen, feiern. Immer begleitet von diesem Schatten, dass ihr Sohn ein Mörder ist. Ihr Kind, das zu ihnen gehört, das sie nicht loswerden, selbst wenn sie sich von ihm lossagen würden, was sie nicht tun. „Er bereut es“, sagt die Mutter und blickt direkt in die Kamera. Ihr Sohn habe eine Entwicklung durchlaufen. Ulla Högel klingt, als wolle sie sich selbst überzeugen. Die Eltern von Niels Högel, das macht der Film sehr deutlich, sind auch Opfer. Am Ende möchte man sie in den Arm nehmen, alle beide, fest drücken und ihnen alles Gute wünschen.