Fadwa Mahmoud lebt in Berlin und vermisst seit Jahren ihren Mann und ihren Sohn, die unter Assads Regime in Syrien verschwanden. Nun schöpft sie Hoffnung.
Fadwa Mahmoud ist eine kleine Frau Ende 60 mit kurzem grauen Haar und weichen Zügen. An diesem verregneten Dezembertag steht sie auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg, um sie herum rund 5000 demonstrierende Menschen. Fadwa Mahmoud ist so etwas wie das heimliche Zentrum der Freude. Ständig kommt jemand auf sie zu, gratuliert ihr, umarmt sie. Manche wollen sie kaum loslassen, vor Freude.
Sie kennen Mahmoud aus ihrem jahrelangen Kampf für Syriens politische Gefangene – jene mehr als 100.000 Menschen, die seit 2011 in den unterirdischen Gefängnissen des Assad-Regimes verschwunden sind; Menschen, die gefoltert und massenweise getötet wurden.
Menschen wie Mahmouds Mann oder ihr Sohn. Wo sie festgehalten werden und ob sie noch leben, weiß Mahmoud nicht. Trotzdem, sagt sie, sie sei an diesem Tag überglücklich. „Es ist wie ein Traum, der wahr wird.“
Es ist geschehen, was viele hier kaum für möglich hielten: Der syrische Diktator Baschar al-Assad wurde gestürzt, nach mehr als 50 Jahren hat das Regime ein plötzliches Ende gefunden. Am frühen Morgen des 8. Dezember gelang es den Rebellen der islamistischen Gruppe „Hayat Tahrir asch-Scham“, die syrische Hauptstadt Damaskus einzunehmen und den Diktator zu vertreiben. Er und sein Vater stehen für bleierne Jahrzehnte staatlicher Unterdrückung und Gewalt, deren ganzes Ausmaß wohl jetzt erst ans Licht kommen wird.
Sie flohen vor Assad, nun feiern sie
Nach der gescheiterten syrischen Revolution im Jahr 2011 flohen Millionen Menschen vor Krieg, Folter und der katastrophalen wirtschaftlichen Lage aus dem Land. Knapp eine Million leben in Deutschland – und feierten am Sonntag in vielen Städten euphorisch den Sturz Assads. Es waren Feiern der Zuversicht, aber auch des Schmerzes. Viele waren in Gedanken bei den Menschen, die sie vor Jahren zurücklassen mussten: bei ihren Familien, bei ihren Freunden, bei den Verschwundenen und den Toten. Wie Fadwa Mahmoud auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg.
Seit dem Sturz Assads haben Menschen in ganz Syrien begonnen, die Gefängnisse zu öffnen, politische Gefangene zu befreien und nach den Verschwundenen zu suchen.
Noch hat Mahmoud nichts von ihrem Mann und ihrem Sohn gehört. Doch zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren stehen die Chancen gut, dass sie Gewissheit über ihr Schicksal bekommen könnte.
Warum die Wende in Syrien eine Chance ist 8.30
„Wir warten“, sagt sie. Das tut sie seit Jahren. „Wenn ich heute höre, dass die beiden frei sind, reise ich morgen nach Syrien.“
Der Oranienplatz füllt sich immer weiter, auch die Straßen rundum sind voller Syrerinnen und Syrer. Immer wieder drängt ein neuer Schwung Feiernder aus dem U-Bahnhof, immer wieder nähert sich das Dröhnen eines Sprechchors. „Freiheit für die Menschen, ob du es willst oder nicht, Assad!“, rufen sie, und: „Erhebe dein Haupt, du bist Syrer“.
Die Flagge der Revolution: überall in der Luft und in Gesichter gemalt
Überall ist die Flagge der syrischen Revolution, grün, weiß, schwarz mit drei roten Sternen. Sie wird geschwenkt, liegt auf Schultern, ist auf Gesichter gemalt. Alte Menschen und Familien mischen sich mit Hipstern und Jugendlichen, sie alle sagen „Mabruk“ – arabisch für Glückwunsch. Fremde tauschen sich aus, wo in Syrien sie herkommen.
Im Bus sagt ein Mann zu einem Kind: „Inschallah wirst du nach Syrien reisen und das Land kennenlernen.“ Nach Syrien reisen: Darüber denken einige nun nach, die in Berlin-Kreuzberg den Untergang Assads feiern.
Hossam, 42, lebt seit fast zehn Jahren in Deutschland. Der studierte Historiker arbeitet hier als Sozialarbeiter. Nach Damaskus reisen will er unbedingt, um seine Mutter und seinen Bruder zu sehen. Seit 2014 haben sie sich nicht in den Armen gehalten. Aber dauerhaft zurück nach Syrien? „Ich habe hier ein Leben aufgebaut, habe gearbeitet, Steuern gezahlt, ein Kind bekommen, das Syrien nicht kennt. Dort habe ich hingegen gar nichts.“
Hossam hofft auf einen Wiederaufbau Syriens, auch auf internationale Unterstützung. Er sagt: „Dann entstehen bestimmt auch viele Arbeitsplätze im Land.“ Er sagt aber auch: „Ich habe Angst vor der Zukunft. Man muss sich nur die Erfahrungen von Ägypten, Libyen oder Irak ansehen. Auch dort haben sich die Menschen gefreut und wurden enttäuscht. Der Übergang kann lange dauern.“ Dann nimmt er seine kleine Tochter auf den Arm und wendet sich, eine Flagge schwenkend, der tanzenden Menge zu.
Der Assad-Clan – eine Dynastie des Schreckens ist gestürzt 18.25
„Wenn Syrien sicher ist, gehe ich zurück“, sagt Mohammed, der am Rande der Demonstration eine Zigarette raucht. Der 34-jährige Elektriker trägt Dutt und Holzfällerhemd und hat sich die syrische Revolutionsflagge wie ein Cape umgebunden. 2012 flüchtete er vor dem Militärdienst, er lebte lange in der Türkei. Erst seit Kurzem ist er in Berlin. „Niemand ist als Tourist hier oder aus Lust und Laune“, sagt Mohammed. Er sehnt sich nach seiner Familie, seinen Freunden und Nachbarn, nach den Straßen seiner Heimatstadt Aleppo. „Wir müssen uns noch gedulden“, glaubt er, doch er ist zuversichtlich: Der Umsturz sei bisher gewaltlos und respektvoll abgelaufen. „Das Assad-Regime hat Konflikte zwischen den Konfessionen gesät, um uns zu entzweien.“ Jetzt sei es wichtig, dass das Volk zusammenhalte.
„Egal, was passiert, es wird besser“
Ein Stück weiter steht Vinda aus Damaskus und schiebt einen Kinderwagen mit ihren Zwillingen vor und zurück. „Egal, was passiert, es wird besser“, sagt sie. Immerhin hätten die Menschen in ihrer Heimat durch die Jahre des Krieges „ein politisches Bewusstsein entwickelt. Auf sektiererische Hetze werden wir uns nicht einlassen.“
Vinda musste Syrien 2011 verlassen, als sie nach politischen Posts auf Facebook Morddrohungen erhalten hatte. Wie viele andere kann sie ihre Gefühle an diesem Tag nicht in Worte fassen. „Es ist etwas, wovon du dein Leben lang träumst, aber nicht glaubst, dass es wahr werden könnte.“ Die Unterdrückung habe nicht erst 2011 angefangen, sagt sie, sondern vor 50 Jahren. Ein Syrien ohne Assad kennt die 34-Jährige bislang nicht.
„Die Angst war fest verankert in Syrien“, sagt auch Moustafa Gumrok, der mit einer Gruppe älterer Herren zum Oranienplatz gekommen ist. Er ist 74 Jahre alt und lebt schon seit mehr als fünfzig Jahren in Berlin. Er hat hier studiert, geheiratet, Kinder und Enkel bekommen, einen Fußballverein für Menschen gegründet, die neu im Land sind. Um den Hals trägt er einen gestrickten Schal in den Farben der syrischen Flagge.
„Wir waren alle so geknickt die letzten 13 Jahre“, sagt Gumrok. „Damals waren wir ganz nah dran, Assad zu stürzen. Aber dann wurde er von Russland und Iran wieder aufgerichtet.“ Wie viele andere versuchte Gumrok, aus dem Ausland für ein freies Syrien zu kämpfen. „Aber wir hätten nicht gedacht, dass wir diesen Tag erleben.“ Für Gumrok ist Deutschland heute genauso Heimat wie Syrien. Doch wenn die Lage vor Ort stabil ist, möchte er mit seinen Freunden in seine Heimatstadt Aleppo reisen. Er grinst vorfreudig, als er daran denkt: „Wir wollen dort im Café bei der Zitadelle frühstücken.“
Überwältigt von Trauer
Auch Yasmina Ahmed*, eine 33-jährige Anwältin aus Damaskus, ist auf den Oranienplatz gekommen. Sie war die ganze Nacht wach. „Niemand schläft gerade“, sagt sie. „Zeit spielt für Syrer*innen keine Rolle mehr.“ Am frühen Morgen dieses historischen Sonntags, als feststand, dass der Diktator Baschar al-Assad gestürzt ist, ging sie mit Freundinnen und Freunden zur syrischen Botschaft in Berlin. Sie wollten die Flagge austauschen.
„Die Polizei war verwirrt“, erzählt Yasmina lachend. „Das sei doch die Botschaft von Syrien, sagten sie. Und wir antworteten: Aber es gibt kein syrisches Regime mehr.“
Überblick Bürgerkrieg Syrien19.40
Am Nachmittag, als sie noch auf dem Weg war zur Demo, hatte Yasmina ein Selfie geschickt: die junge Frau mit braunen Locken und Nasenpiercing strahlte in die Kamera, neben ihr zeigte ein Freund das Peace-Zeichen. „Wir sind sehr glücklich“, hatte sie geschrieben.
Nun steht sie hier mit tausenden Landsleuten und feiert das Ende einer Ära, die vielen wie ein endloser Albtraum erschien. Doch Freude ist nur eines von vielen Gefühlen, die mit diesem Wandel verbunden sind.
Am Abend ist Yasmina überwältigt von Trauer und Angst. Im Internet kursieren Videos der Befreiung politischer Gefangener. Sie zeigen erstmals das Innere der Haftanstalten, in denen Zehntausende politische Gefangene seit Jahren verschwunden sind. Folter, sexualisierte Gewalt, außergerichtliche Hinrichtungen, unmenschliche Haftbedingungen: All das war dort allgegenwärtig, Unzählige haben die Haft nicht überlebt.
Als Yasmina davon erzählt, weint sie hemmungslos: „Es sieht genauso aus, wie wir es seit Jahren gehört haben. Es ist schrecklich. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Im Sednaya-Gefängnis sitzen Menschen drei Stockwerke unter der Erde fest, darunter Frauen und Kinder. Mir ist gerade scheißegal, wer Syrien wie regieren wird. Ich will einfach nur wissen, dass diese Menschen in Sicherheit sind.“
Auch für Assad interessiert sie sich in diesem Moment nicht. „Wir werden ihn schon kriegen, aber wir sollten uns jetzt auf die Gefangenen konzentrieren, nicht auf den Täter. Diese Gedanken führen nur zu Rache.“ Es werde viel Zeit brauchen, das Leid der syrischen Bevölkerung zu verarbeiten, ist Yasmina sicher. „Ich sehe das Trauma in jedem Einzelnen von uns“, sagt sie. „Wir lassen erst jetzt zu, dass es an die Oberfläche kommt.“
*Name von der Redaktion geändert