Nach umstrittenen Wahlen stimmt das Parlament in Georgien nun über eine neue Präsidentin ab. Die Lage droht weiter zu eskalieren. Doch die EU muss Fingerspitzengefühl zeigen.
Die Kaukasusrepublik Georgien ist ein Land, in dem das Ziel eines EU-Beitritts nicht nur in der Verfassung festgeschrieben ist, sondern in dem auch seit Jahren eine große Mehrheit von 80 Prozent der Menschen dafür eintreten: Besonders junge Georgier orientieren sich in Richtung EU. Sie studieren in Prag, sie fliegen für Partys nach Berlin, sie arbeiten in Paris. Die seit 2017 geltende EU-Visumfreiheit macht das möglich für die etwa 3,6 Millionen Georgier.
Mit der Entscheidung von Ende Dezember, die Beitrittsverhandlungen mit der EU bis 2028 zu pausieren, spuckte die Regierung all diesen Menschen ins Gesicht. Und die spuckten zurück: Seit zwei Wochen gehen sie zu Zehntausenden auf die Straße, in Tiflis und anderen Städten des Landes. Mehrere Hundert Menschen wurden von der Polizei im Zuge dieser Demonstrationen festgenommen, Dutzende zum Teil schwer verletzt.
Georgien schlittert in eine handfeste Staatskrise
Vom Westen, insbesondere der EU, fordern sie Sanktionen gegen die Regierung – die ihnen zufolge im Auftrag Russlands handelt und ohnehin illegitim ist: Bei der Parlamentswahl Ende Oktober holte die Regierungspartei „Georgischer Traum“ zwar 54 Prozent, aber eine OSZE-Beobachtermission kritisierte die Wahl deutlich. Aus Sicht der Demonstranten wurde die Wahl gestohlen, die Opposition hat ihre Sitze im Parlament deshalb nicht besetzt. Auch die Präsidentin des Landes, Salome Sourabischwili, erkennt Parlament und Regierung nicht an. Sie will im Amt bleiben, ungeachtet dessen, dass die von der Regierung dominierte „Nationalversammlung“ nun am Samstag einen neuen Präsidenten wählt. Georgien schlittert in eine handfeste Staatskrise.
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Die EU steckt derweil in der Klemme: Soll sie sich der Interpretation der Opposition anschließen und die georgische Administration sanktionieren, allen voran den Milliardär Bidsina Iwanischwili, der die Regierungspartei steuert?
Mehrere baltische Länder sowie die Ukraine haben derartige Sanktionen erlassen. Doch die restliche EU hält sich bislang zurück. Der wichtigste Grund dafür ist, dass man in Paris und Berlin eine wirkliche Abwendung der georgischen Regierung von der EU verhindern will. Das hängt auch mit Geopolitik zusammen: Georgien grenzt im Norden an Russland und im Süden an Armenien, das über die letzten Jahre bemüht war, sich dem Westen anzunähern. Aus Aserbaidschan laufen wichtige Öl- und Gaspipelines über georgisches Territorium in Richtung Europa. Trotz der in Georgien weitverbreiteten Europa-Begeisterung sieht man im Westen die Gefahr, dass Russland im schlimmsten Fall das Kommando in Georgien übernimmt – oder zumindest seinen Einfluss wieder deutlich steigern kann.
Georgien ist nicht das einzige Land, das in den letzten Jahren versucht, zwischen dem Westen und Russland zu balancieren: Serbien etwa wird von der EU umworben, hält aber seine Sonderbeziehungen zu Russland aufrecht. Zentralasiatische Ex-Sowjetrepubliken wie Kasachstan und Usbekistan versuchen, sich mithilfe des Westens (und Chinas) von Russland unabhängiger zu machen – ohne sich aber völlig von Russland abzuwenden, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen. Das erfordert vom Westen und insbesondere von den Europäern Fingerspitzengefühl.
Die Regierung hat der EU eine Falle gestellt
Mit seiner aggressiven Propaganda hat der „Georgische Traum“ der EU zudem eine Falle gestellt. Iwanischwili hatte im April mit einer Rede vor Anhängern in Tiflis den Ton vorgegeben: Von einer „globalen Kriegspartei“ in Form von Nato und EU sprach er da, die in Georgien eine „zweite Front“ gegen Russland eröffnen wolle. Georgische Nichtregierungsorganisationen und Opposition seien nur Erfüllungsgehilfen dieser Kräfte. „Sie haben kein Vaterland; sie lieben ihr Land und ihr Volk nicht, weil sie es nicht wirklich für ihr eigenes halten“, sagte Iwanischwili damals. Die Opposition bezeichnete er als „verdammte Kriminelle“, die westliche Politiker mit „Zähnen und Klauen“ verteidigt hätten.
In der Regierungspropaganda werden die jetzigen Proteste nun als geplanter Putsch dargestellt, der von den „heldenhaften“ Sicherheitskräften abgewendet wurde. Eine zu klare Parteinahme des Westens würde perfekt in dieses von der Regierung vermittelte Bild der Wirklichkeit passen: Da seht ihr, der Westen unterstützt seine Handlanger, um unser Land ins Chaos zu stürzen – und in einen Krieg mit Russland. Diese Angstmacherei fällt in Georgien durchaus auf fruchtbaren Boden, zumal seit Beginn des Ukraine-Krieges: Knapp 60 Prozent der Georgier sprachen sich im September dafür aus, eine Balance zwischen Russland und dem Westen zu versuchen.
Die EU täte deshalb gut daran, in dem Konflikt als Vermittler aufzutreten und nicht in die von Iwanischwili gestellte Falle zu tappen. Anstatt den Konflikt entgleisen zu lassen, wäre ein von der EU organisierter runder Tisch eine Option, bei dem Regierung und Opposition eine Kompromissformel zu Neuwahlen unter anderen Bedingungen aushandeln könnten. Das hatte schon nach der letzten Parlamentswahl funktioniert. Denn dass Iwanischwili der EU tatsächlich den Rücken kehren will, wie die Opposition behauptet, darf bezweifelt werden: Trotz allen Wahlkampfgetöses in seiner Rede hatte er seinen Wählern im Frühjahr versprochen, Georgien bis 2030 in die EU zu führen.