Familie: „Mutter und Tochter sollten niemals Freundinnen sein“

Die Mutter von Schriftstellerin Daniela Dröscher, 47, wurde für sie zur Freundin und zu einer Verbündeten gegen den Vater. Aus beiden Rollen musste sich Dröscher befreien.

Wir sehen uns noch, wir telefonieren viel, meine Kinder sind öfter bei Oma als ich selbst, das hat aber nur mit der begrenzten Zeit zu tun. Wir sehen uns gerne, wann immer es möglich ist. Sie ist gesundheitlich nicht mehr so fit, dass sie kommen könnte. Wir sehen uns deshalb vier oder fünfmal im Jahr.

Sie ist meine Gefährtin. Ich rufe sie an, wenn ich einen Rat brauche. Sie ist also meine Ratgeberin, aber auch meine Cheerleaderin. Umgekehrt ist das genauso. Meine Mutter schaut sich einiges von mir ab, fragt mich auch mal um Rat, das mussten wir erst üben. Meine Mutter ist nun 71 Jahre alt, aber das Alter spielt keine große Rolle. Sie kommt mir wie ein junges Mädchen vor. Sie ist neugierig. Wach. Interessiert.

„Meine Mutter kämpfte mit ihrem Gewicht. Das hatte Einfluss auf mein eigenes Körperbild“

Das Drama ihres Lebens ist ihr Gewicht, für das sie mein Vater immer kritisiert und gedemütigt hat. Ich habe ein Buch über diese Zeit geschrieben, meine Kindheit, es heißt „Lügen über meine Mutter“. Darin erzähle ich von der fixen Idee meines Vaters, das Übergewicht meiner Mutter wäre verantwortlich gewesen für alles, was ihm versagt geblieben ist, die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung der Nachbarn. Als Kind hat mich das geprägt. Irgendwann habe ich erkannt, dass das Unrecht, das meiner Mutter geschieht, von meinem Vater ausgeht – und habe Stellung bezogen.

Ihr Drama, das zwangsläufig auch meines war, hatte Einfluss auf mein Körperbild. Darauf, wie ich mit mir selbst umgehe, wie viel ich mir abverlange: Für wie robust erklärt man den eigenen Körper, obwohl er es gar nicht ist? Ich habe die Tendenz, mich absolut zu überarbeiten. Und ja, ich hatte auch ein Thema mit meinem Gewicht, obwohl ich immer schlank war. Ich habe mich aber schon in der Pubertät dagegen entschieden, dass das je mein Drama wird. Wenn ich mal ein bisschen mehr oder weniger gewogen habe, habe ich mir immer gesagt: Erinnere dich daran, wie unglücklich das Gewicht machen kann, wenn es das eigene Leben dominiert. Such dir ein anderes Problem.

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Meine Mutter hat versucht, dem Drama entgegenzuwirken. Sie hat mir das intuitive Essen beigebracht, so würde ich das im Nachhinein nennen. Sie hat mir sehr früh gezeigt: Hör auf dich, hör auf deine Bedürfnisse. Aus dem gemeinsamen Widerstand meinem Vater gegenüber ist eine Nähe entstanden. Mütter und Töchter können nicht und sollten niemals Freundinnen sein, ich war meiner Mutter eine. Aus dieser Rolle musste ich mich befreien. Das ist eine lebenslange Aufgabe, denn wenn die Nähe so früh entstanden ist, bleibt sie. Ich habe sie lange als normal empfunden. 

Eine erste Zäsur war der Auszug von zuhause, ich bin zum Studium nach England gegangen. Dann habe ich selbst Kinder bekommen. Auf einmal war ich selbst Familienoberhaupt. Und mit jedem neuen Buch, das ich schreibe, trete ich ein Stückchen weiter aus dieser Nähe heraus. Dass ich unsere Geschichte aufschreibe, wusste meine Mutter, sie hat mich dazu ermutigt. Sie hat sehr früh gesehen, dass das meine Befreiung ist. Sie hat gesagt: „Du schreibst dich frei, du erzählst es so, wie du es wahrgenommen hast.“ Nach dem Lesen war sie erstaunt und geschockt darüber, wie viel ich mitbekommen habe als Kind. Gekränkt hat sie mein Buch jedoch nicht.

„Ohne meinen Vater hätten wir eine freiere Beziehung eingehen können“

Die Beziehung zwischen meiner Mutter und mir wäre niemals so eng geworden, hätten wir nicht beide versuchen müssen, dem anderen zu helfen und zu beschützen, zum Beispiel vor diesen Diät-Maßnahmen meines Vaters. Ohne meinen Vater hätten wir eine viel freiere Beziehung eingehen können. Wir hätten uns früher mit anderen Themen beschäftigen können: Wie oft hat mein Vater und das Drama unsere Leben bestimmt?

Was meine Mutter auch beschreibt, sind Momente der Pause. Momente, in denen sie früher mit mir gespielt hat, in denen sie sich rausgenommen hat aus der schwierigen Situation. Sie hat mir Bücher mitgebracht, sie hat mich zur Leserin gemacht, vielleicht auch zur Schriftstellerin. Ich sehe uns in der Sonne sitzen und das Schöne im Leben sehen, spüren und zulassen. Sie kann demütig auf das alltägliche Glück schauen, sie trägt die Sonne im Herzen, und sie bewahrt sie sich. Das beeindruckt mich angesichts der erlebten Zumutungen. Es braucht mutige Frauen, kämpferische, aber es braucht auch solche, die ihr Herz nicht verschließen. Die nicht zulassen, dass es verbittert oder erkaltet. Warm und wach und weich zu bleiben: Darin liegt ihre Stärke.

Von Daniela Dröscher ist erschienen: „Lügen über meine Mutter“, Kiepenheuer & Witsch 2022, Taschenbuch 14 Euro