Am Dienstag trifft im letzten Achtelfinale der EM 2024 die Türkei auf Österreich. Ein Duell mit ungleichen Vorzeichen. Die Alpenländer spielen unter Ralf Rangnick den abgeklärtesten Fußball seit Jahren, die Türken sind jederzeit bereit, auszubrechen.
Manchmal braucht es nur ganz wenig, einen kurzen Moment, einen kleinen Stein, um einen Vulkan zum Ausbrechen zu bringen. Das gilt auch – oder vor allem – für die türkische Nationalmannschaft. Ihre Zündschnur? Kurz. Ihre Fans? Fleischgewordene Brandbeschleuniger. Die ersten drei Spiele dieser EM haben gezeigt, was die Türken aus- und was sie so gut macht: Emotionalität, Besessenheit – in Bezug auf das Spiel heißt das vor allem: Unberechenbarkeit.
Genau dieses Unberechenbare ist Ralf Rangnick ein Graus. Der Trainer des türkischen Achtelfinalgegners Österreich hat es geschafft, den Fußball zu verwissenschaftlichen. Jedes Tor, jeder Sieg, jede Niederlage ist für ihn vor allem eines: logisch. Unter Chefarzt Rangnick ist die österreichische Nationalmannschaft (wie auch Rangnicks frühere Vereine) zu einem Team von kalten Chirurgen geworden, die Skalpelle gezückt, den Gegner zu sezieren. Am Dienstag liegen auf ihrem OP-Tisch aber nicht weniger als elf Vulkane. Und die brauchen wahrlich nicht viel, um auszubrechen und damit das ganze Krankenhaus in Schutt und Asche zu legen.
Geordnetes Chaos gegen analytisches Pressing: Beide Mannschaften eint vieles – und doch sind sie ganz verschieden
Was beide Mannschaften eint: Rein von der individuellen Qualität sind sie vermutlich nicht das oberste Regal des europäischen Fußballs, mit einigen Ausnahmen. Während die Türkei besonders durch Hakan Calhanoglu und Arda Güler getragen werden, sind es bei den Österreichern Marcel Sabitzer und mit Abstrichen Marko Arnautovic, die herausstechen. Alles Weitere regeln die Teams über ihre Team-Mentalität. Und die wiederum könnte ungleicher nicht sein. Rangnick – Arnautovic 16.11
Die Türkei spielt unter Trainer Vincenzo Montella dagegen das, was seinem Gegenüber am wenigsten schmecken würde: (geordnetes) Chaos. Die Gruppenspiele der „Halbmond-Sterne“ waren teils vogelwild. Dabei schafften sie es insbesondere gegen Georgien und Tschechien, ihre Gegner in den offenen Schlagabtausch zu zwingen – mit dem jeweils besseren (und glücklicheren) Ende für sich. Die Schlussszenen gegen die Tschechen waren bezeichnend: Erst in der 94. Minuten gelang den Türken der 2:1-Siegtreffer. Danach: Chaos, Rudelbildung. Am Ende standen für das Montella-Team 12 Gelbe Karten – und das Achtelfinale.
Die Österreicher dagegen spielen analytischer, aber nicht weniger unterhaltsam. Rangnick hat es geschafft, aus einem Kader von stabilen, aber nicht überragenden Spielern, eine seiner Pressingmaschinen zu basteln. Wie schon bei früheren Stationen etwa in Hoffenheim oder Leipzig hat er den Fußball des ÖFB schon jetzt nachhaltig geprägt. Viele Zweikämpfe, schnelle Diagonal- und Schnittstellenpässe prägen sein Spiel. Chirurgische Präzision aus dem Alpenland. Dribbelkünstler, die den x-ten Übersteiger ansetzen, braucht es dazu nicht. Das Ö-Kollektiv bespielt die Räume durch Rangnicks taktische Expertise so gut, dass auch der ein oder andere technische Aussetzer nicht weiter ins Gewicht fällt.
EM-Achtelfinale: Wer das Spiel gewinnt, wird auch vom Umgang mit der Atmosphäre abhängen
Zweimal spielte die Türkei in Dortmund, einmal in Hamburg. Alle drei Spiele machten die Fans zu Heimspielen. Die türkischen Fans sind für ihren Fanatismus im Stadion bekannt. Sie sind es, die die türkischen Vulkane ein ums andere zum Ausbrechen bringen. Die Frage wird sein, ob sie das auch in Leipzig schaffen werden. Wenn ja, wird es für Österreich schwer werden, sich gegen die Mischung aus Körperlichkeit und Atmosphäre zu wehren. Denn eines steht fest: Nach der krachenden 1:6-Niederlage gegen Österreich in einem Testspiel im März haben die Türken sicherlich noch eine Rechnung offen. Jubelnde Türkei-Fans FS
Das soll allerdings nicht heißen, dass der ÖFB chancenlos ist. Im zweiten Gruppenspiel schaffte es Portugal, sich nicht auf eine emotionale Schlacht gegen die Türkei einzulassen. Frühe Tore zogen den türkischen Fans und der Mannschaft den Stecker. Wenn die Österreicher es schaffen, die türkische Euphorie an ihrer Coolness abprallen zu lassen und sich nicht in chaotische Szenen wie Tschechien oder Georgien zu verlieren, haben sie gute Chancen, auch die Operation Achtelfinale mit ruhiger Hand in ihre Richtung zu lenken.
Helfen wird sicherlich, dass der türkische Kapitän und Mittelfeldregisseur Calhanoglu genauso gelbgesperrt fehlen wird wie Abwehrboss Samet Akaydin.