London: Großbritanniens große Preis-Krise: Sogar die Mittelschicht geht zur Tafel

Großbritannien wählt. Vielen Britinnen und Briten geht es schlechter als vor fünf Jahren. Inzwischen kommen sogar Menschen mit einem Jahresgehalt von 60.000 Pfund zur Tafel, erzählt deren Betreiber William McGranaghan.

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Wenn William McGranaghan seinen Laden verlässt, beginnt ein Hupkonzert. Autofahrer grüßen, Passanten bleiben stehen, unterhalten sich kurz mit „Billy“, wie McGranaghan von allen genannt wird, und danken ihm für seine Arbeit. Jede Stadt hat seine lokale Berühmtheit. Die meisten von ihnen entstehen im Glanz – auch im Londoner Stadtteil Fulham, aus dem Schauspieler wie Hugh Grant, Daniel Radcliffe und Tom Hardy stammen. McGranaghan steht hier gewissermaßen für das Gegenteil: er wurde berühmt, weil er die dunklen Ecken ausleuchtet, weil er mit seinem Projekt „Dad’s House“ den Ärmsten und Schwächsten in Fulham hilft, und weil er keine Berührungsängste hat. Vor niemanden.

Wenn also jemand weiß, was dem britischen Volk fehlt, dann ist es McGranaghan. Angefangen hat er mit einer Anlaufstelle für alleinerziehende Väter. Inzwischen versorgt der 60-jährige jede Woche zusätzlich 400 Menschen mit Lebensmitteln. Dazu bietet er in seiner Tafel Kochabende, Rechtsberatung und Gesprächsrunden an. McGranaghan redet viel mit Menschen, und weiß daher: kein Thema beschäftigt sie stärker als die sogenannte „cost of living-crisis“ – der sprunghafte Anstieg der Preise in Großbritannien. Und die werden, so meint McGranaghan, auch die Parlamentswahlen am Donnerstag entscheiden.

Fünf Jahre nach der letzten Wahl ist die Stimmung im Land mal wieder am Tiefpunkt. Die konservativen Tories, die Partei von Premierminister Rishi Sunak, werden laut Umfragen nur drittstärkste Kraft, noch hinter der extrem rechten „Reform UK“ und der liberalen „Labour“ mit Favorit Keir Starmer. Wobei inzwischen fast die Hälfte aller Briten gar kein Vertrauen mehr in irgendeine Regierung hat, wie eine Umfrage des National Centre for Social Research zeigt. Grund dafür ist vor allem die schleppende wirtschaftliche Entwicklung, die Briten zuletzt mehr genommen als gegeben hat.

Salat, Orangen, Äpfel: die Auswahl in der vergleichsweise kleinen „Foodbank“ von William McGranaghan ist groß
© Tillar

40 Prozent weniger Spenden

William McGranaghan trägt noch einige Kisten aus einem Lieferwagen in seine Tafel. Salatköpfe, Äpfel und Karotten. „Zum Glück haben wir treue Lebensmittel-Spender“, sagt er. Große Lebensmittelketten seien darunter, kleine Bäckereien und Drogeriemärkte. Sie liefern alles Mögliche: von Lebensmitteln über Kosmetik bis hin zu Tierfutter.

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Und doch wird damit nicht alles gut. Selbst im reichen London gehen die Spenden zurück. „Spendengelder und wirtschaftliche Leistung hängen zusammen. Wenn man selbst weniger hat, kann man auch weniger geben“, sagt McGranaghan. Etwa 40 Prozent geringer sei das Spendenvolumen daher im vergangenen Jahr gewesen. Wobei „Dad‘s House“ jährlich knapp 400.000 Pfund benötigt, um die sieben Vollzeitkräfte, 40 Helferinnen und Helfer sowie Energierechnungen zu bezahlen. Gleichzeitig stiegen die Kosten. Allein für Energie zahlt McGranaghan fast 900 Pfund pro Monat, sagt er, während zeitgleich immer mehr Menschen Hilfe suchen.

Die 68-jährige Pebsy (r.) kommt seit fast zwei Jahren in die Tafel von William McGranaghan
© Tillar

Pebsy ist eine von ihnen. Die 68-Jährige trägt lange Dreadlocks und eine Sonnenbrille um den Hals. Pebsy lacht viel, obwohl sie, rein objektiv, wenig zu lachen hat. Verdient habe sie nie viel. Doch seit die Kosten gestiegen sind und ihre Tochter krank geworden sei, bliebe nur der Weg zur Tafel. Einmal die Woche komme sie nun ins Dad’s House, wo sie für zwei Pfund freie Auswahl hat. „Ein bisschen Gemüse, Pasta und Tee. Mehr brauche ich nicht“, sagt Pebsy. „Das sind Produkte, die ich früher beim Discounter gekauft habe. Aber seit der Krise, gibt es immer weniger Angebote. Dann kann ich mir das nicht mehr leisten.“ Etwa 100 Pfund habe sie im Monat für Lebensmittel übrig. Nicht viel, und doch noch mehr als andere.

Um zu zeigen, wie dramatisch die Situation ist, öffnet McGranaghan sein E-Mail-Postfach. Er blickt auf dutzende ungeöffnete Nachrichten. „Wir haben seit Jahresanfang 450 Hilfsanfragen per Mail bekommen, 500 über unsere Website und knapp 2000 Anrufe. Wir beantworten alles, können aber nicht mehr jedem helfen“, sagt er. In Corona-Zeiten seien teilweise 1000 Menschen wöchentlich in die Tafel gekommen. Heute sind es immer noch 400, was etwa 150 mehr sind als 2019. „Und wir könnten wahrscheinlich noch mal das doppelte aufnehmen.“

Zu den Hilfsbedürftigen zählen nicht mehr, wie früher, sozial abgehängte Menschen – schlecht ausgebildet, finanziell abhängig oder arbeitsunfähig – sondern die ehemalige Londoner Mittelschicht. „Wir haben hier Menschen mit 50.000 oder 60.000 Pfund Jahreseinkommen. Ganz klassische Arbeiter, Selbstständige, die ihre Mitarbeiter bezahlen wollen und bei sich selbst sparen. Die hatten wir früher nicht hier“, berichtet McGranaghan.

Realität in Großbritannien: Essen oder Heizen?

Der Klassiker seien Kredite, Trennungen oder Mieterhöhungen. McGranaghan nennt dutzende Fälle mit Vornamen. „Wer vorher 1000 Pfund für seinen Hauskredit bezahlt hat, muss nun, bei einer Zwischenfinanzierung und höheren Energiekosten 2000 zahlen. Und das innerhalb von nur zwei Jahren. Gleichzeitig sind die Steuern um 30 Prozent gestiegen.“

Fragt man McGranaghan, ob er sich von der Regierung gesehen fühlt, winkt er ab. Zur lokalen Behörde, ja, aber im großen Wahlkampf um 10 Downing Street wurde „bis vor zwei Monaten nicht ein einziges Mal über die Lebenshaltungskosten geredet“. Das sei exemplarisch. „Es hat sich so viel aufgestaut. Keine Regierung der Welt kann das jetzt in ein paar Monaten lösen.“ Wobei Eile geboten wäre, denn, so sagt McGranaghan, im Winter stünde ein „Hurricane“ bevor. „Die Menschen stehen vor der Wahl, ob sie heizen oder etwas essen. Manchmal geht beides nicht.“