Im zweiten Halbfinale der EM 2024 treffen die Niederlande auf England. Beide haben das Glück, auf der richtigen Seite des Turnierbaums zu stehen – und kämpfen mit massiver Kritik an den Trainern.
In der Heimat war die englische Nationalmannschaft zuletzt nicht wohl gelitten. Die Spieler bezogen für ihre schwachen Auftritte bei der Europameisterschaft verbale Prügel von Medien und Experten. Am meisten bekam Nationaltrainer Gareth Southgate ab, dem vorgeworfen wurde, aus einer nominellen Spitzenmannschaft eine traurige Durchschnittstruppe zu machen. Mittlerweile hat sich die Stimmung auf der Insel aufgehellt. „Ich würde lieber langweiligen Fußball sehen und gewinnen. Es ist ein Lebensziel von mir, mal zu sehen, wie England irgendetwas gewinnt“, sagte Chef-Experte Gary Lineker. Immerhin. Derselbe Lineker hatte die Darbietungen vorher als „scheiße“ bezeichnet.
Den Traum vom großen Titel muss der ehemalige Torjäger nicht aufgeben. England hat es in das EM-Halbfinale geschafft und trifft in Dortmund auf die Niederlande. Was Lineker so in Rage brachte: Die Mannschaft von Trainer Gareth Southgate hat es unter die letzten Vier geschafft mit einer defensiven Spielweise, die auf absolute Sicherheit ausgerichtet ist – und dabei hat sie auch noch schlecht gespielt.
Dem Auftakt-Sieg gegen Serbien mit einer guten ersten Halbzeit folgten zwei blasse Unentschieden gegen Slowenien und Dänemark. Im Achtelfinale rettete sich England wenige Sekunden vor Schluss dank eines Fallrückzieher-Geniestreichs von Jude Bellingham in die Verlängerung und gewann.
England kann Elfmeterschießen bei der EM 2024
Gegen die Schweiz im Viertelfinale wurde es kaum besser. Diesmal war es Bukayo Saka, der die Three Lions mit einem Tor aus der Distanz in die Verlängerung schoss. Im Elfmeterschießen bewiesen die Engländer Nerven und verwandelten alle fünf Strafstöße, während die Schweiz einen vergab. England, traditionell eher schwach im Elfmeterschießen, feierte sich und die neue Coolness.Niveau? Iwo! 20.56
Damit lebt der Traum vom zweiten großen Erfolg nach dem WM-Titel von 1966 weiter. Vor dem Turnier zählte England zu den großen Favoriten. Zwischendurch büssten sie den Status aufgrund der gezeigten Leistungen wieder ein. Besonders die Offensivreihe mit Harry Kane, Phil Foden, Jude Bellingham und Bukayo Saka versprühte bislang wenig Glanz. Das lag zum einen an der auf absolute Sicherheit ausgelegten Taktik des Trainers. Southgate folgt konsequent der Tradition, dass die Defensive Titel gewinnt, während die Offensive nur Spiele entscheidet. Dennoch führte seine Vorsicht offenbar dazu, dass die Mannschaft sich eher zurücknahm beziehungsweise einfach schlecht spielte. Zwischendurch war die Wut auf den Trainer so groß, dass die Fans ihn mit Bierbechern bewarfen. Gegen die Niederlande muss sich das Team dringend steigern, so viel steht fest.
Deren Coach Ronald Koeman sieht sich ähnlicher Kritik ausgesetzt. Als dem Angreifer Cody Gakpo bei einer Pressekonferenz in Wolfsburg erzählt wurde, dass das englische Team in der Heimat stärker kritisiert werde als das niederländische, entgegnete der Profi des FC Liverpool: „Ach, ist das überhaupt möglich?“ Die Kritik ist besonders den Auftritten in der Vorrunde geschuldet, als Oranje hinter Österreich und Frankreich den dritten Platz erreichte. Das Gute: Im Turnierbaum rutschte Holland dadurch auf die leichtere Seite. Die Gegner in der K.o.-Runde hießen Rumänien und die Türkei. Auch das haben sie mit den Engländern gemeinsam. Genau wie die große Sehnsucht, endlich den zweiten großen Titel nach dem EM-Sieg 1988 zu gewinnen, der damals ebenfalls in Deutschland gelang.
Ronald Koeman ist Pragmatiker
Koeman ist wie Southgate ein Pragmatiker, der konservativen Ergebnisfußball spielen lässt. Er weiß, worauf es bei einem Turnier ankommt: Spiele gewinnen, egal wie. Und der an seiner Spielidee festhält und auf Rückschläge klug reagiert: Koeman musste vor dem Turnier die zentralen Mittelfeldspieler Frenkie de Jong und Teun Koopmeiners sowie Linksverteidiger Quilindschy Hartman, der mit einem Kreuzbandriss ausfiel, ersetzen. Das gelang ihm. Dennoch spielte die Niederlande nach Ansicht vieler Kritiker bisher zu bieder und wurde der Idee „schönen Spiels“ nicht gerecht, dem „totaalvoetbal“, der immer der Anspruch ist. Dennoch hat Koeman es mit seiner Philosophie ins Halbfinale geschafft. „Wir können stolz sein, dass wir das Halbfinale erreicht haben“, sagte er. „Das hat niemand erwartet. Aber die Mission ist noch nicht vorbei.“ Sollte er sie erfolgreich abschließen, wäre Koeman neben Berti Vogts der einzige, der als Spieler wie als Trainer den EM-Titel gewonnen hat.
Quellen: „The Athletic„, „The Guardian“, „Faz„, DPA.