Unzuverlässiges Erzählen im Spielfilm: 1999 verblüffen der Geisterfilm „The Sixth Sense“ und das Kampfdrama „Fight Club“ Millionen Kinogänger. Mit den beiden Thrillern wurden Twist-Enden Mainstream.
Gruselige Stimmung, erstklassige Schauspieler und ohne Ende Gesprächsbedarf nach einer überraschenden Auflösung am Schluss: Sowohl „The Sixth Sense“ von M. Night Shyamalan als auch der Psychothriller „Fight Club“ von David Fincher werden dieses Jahr 25 Jahre alt. Nach dem Erfolg der beiden Filme entstand ein regelrechter Boom des sogenannten Twist Endings (auch „Final Twist“ oder, weiter gefasst, „Plot Twist“ genannt).
Filme mit Plot-Twist präsentieren eine Ent-Täuschung des Zuschauers, die aber so gar nicht enttäuschend ist, sondern oft zu einem unvergesslichen Aha-Erlebnis führt. Neue Informationen gegen Ende führen dazu, dass ein Film weitgehend umzudeuten ist.
Das Jahr 1999 war ein sehr besonderes Filmjahr: „Matrix“, „Magnolia“, „American Beauty„, „Being John Malkovich“ oder auch „Blair Witch Project“ feierten damals Premiere. Besonders bleibenden Eindruck hinterließen jedoch die beiden Thriller mit dem Wende-Ende.
„Fight Club“ und „The Sixth Sense“ stachen 1999 heraus
„Das Besondere an „Fight Club“ und „The Sixth Sense“ war, dass beide Filme verschiedene Szenen hatten, die nachträglich in Kenntnis des Plot-Twists völlig neu zu beurteilen waren“, sagt der Filmexperte und Autor Bernd Leiendecker, der vor zehn Jahren an der Uni Bochum in Medienwissenschaft promovierte. Seine Doktorarbeit erschien als Buch unter dem Titel „They only see what they want to see – Geschichte des unzuverlässigen Erzählens im Film“.
„Die beiden Filme weckten den Wunsch, sich die entscheidenden Szenen noch einmal anzuschauen“, sagt Leiendecker. „Zeitgleich begann der Siegeszug der DVD, also konnte man komfortabel zu den entscheidenden Szenen springen und in entscheidenden Momenten auch ein gestochen scharfes Standbild anschauen.“ Beides ging zuvor bei Videokassetten eher schlecht. „“Fight Club“ galt nach der Kinoauswertung noch als Flop, war aber ein großer Erfolg auf DVD“, sagt Leiendecker, der seit 2015 den Blog „mindfuck-film.de“ betreibt.
Bei Twist-Endings wie bei „The Sixth Sense“ und „Fight Club“ unterscheidet die Filmwissenschaft grob vier Möglichkeiten, die natürlich auch gemischt werden können: den narrativen Twist (Annahmen über die erzählte Welt waren falsch), den perzeptiven Twist (Perspektive und Wahrnehmung war nicht zu trauen), den Set-up-Twist (Verschwörung wird aufgedeckt) und den Wake-up-Twist (es wird aus einem Traum oder einer Halluzination erwacht). Je klassischer vorher erzählt wird, desto größer ist der Wow-Effekt.
Im Psychothriller „Fight Club“ mit Edward Norton und Brad Pitt lernt der von seinem Leben gelangweilte Protagonist auf einer Dienstreise im Flugzeug den dubiosen Tyler kennen, mit dem er später harte Faustkämpfe austrägt – als Gegenentwurf zum Funktionieren im kapitalistischen System feiert er gewalttätige Männlichkeit und Selbstzerstörung als Selbstbestimmung. Tyler ist Anarchist, macht all das, was der Protagonist sich nicht traut.
„Ich sehe tote Menschen“
In „The Sixth Sense – Nicht jede Gabe ist ein Segen“ mit Kinderstar Haley Joel Osment und Bruce Willis leidet der neunjährige Cole unter übernatürlichen Fähigkeiten. Erst dem Kinderpsychologen Malcom Crowe vertraut der kleine Cole sich an: „Ich sehe tote Menschen (…). Sie laufen durch die Gegend wie normale Menschen. Sie können sich gegenseitig nicht sehen. Sie sehen nur, was sie sehen wollen. Sie wissen nicht, dass sie tot sind.“
Keine Sorge: Hier wird nicht gespoilert, der Clou wird nicht verraten. Doch so viel sei gesagt: „Plot Twist“ (auf Deutsch etwa: Handlungsdrehung) ist eigentlich ein irreführendes Wort. Denn am Ende ändert sich ja nicht die Handlung, sondern es zeigt sich eine andere Bedeutungsebene, das Wissen über das Verhältnis der Figuren zueinander wandelt sich.
Natürlich gab es schon vor den Twist-Ending-Klassikern „Fight Club“ und „Sixth Sense“ Filme mit Twist-Momenten – also Werke, bei denen sich ein gewaltiger Überraschungseffekt auftat. Frühe Beispiele sind etwa „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von Robert Wiene (1920), auch „Citizen Kane“ von Orson Welles (1941), „Zeugin der Anklage“ von Billy Wilder (1957) sowie natürlich „Die rote Lola“ (1950) oder „Psycho“ (1960) – beide von Alfred Hitchcock.
In den 90ern produzierte Hollywood im Thriller-Boom seit dem Kassenhit „Das Schweigen der Lämmer“ mit Jodie Foster und Anthony Hopkins Filme wie David Finchers Serienmörder-Epos „Sieben“, den Krimi „Die üblichen Verdächtigen“ von Bryan Singer sowie Finchers Läuterungsthriller „The Game“ mit Michael Douglas und Sean Penn.
Seit 2000 immer mehr Plot-Twist-Hits von „Memento“ bis „Saltburn“
Doch erst nach 1999 schienen es immer mehr Filme zu werden, die Zuschauerinnen und Zuschauern einen sogenannten Mindfuck zutrauten, wie heute ein gern genutzter Begriff lautet, wenn ein Film mentale Anstrengung erfordert. Sei es, dass es eine überraschende Wendung gibt, ungewöhnliche Zeitstrukturen oder keine eindeutige Auflösung.
Im Jahr 2000 kam „Memento“ von Christopher Nolan raus, 2001 erschienen zum Beispiel „The Others“, „Donnie Darko“ und „Mulholland Drive“, 2010 „Shutter Island“ und „Inception“, 2013 gab es „Die Unfassbaren“, 2014 „Gone Girl“, 2017 „Get Out“, 2019 „Parasite“, 2020 „The Father“, 2022 „The Menu“ und „Triangle of Sadness“, 2023 „Saltburn“ und „All of Us Strangers“. Der Twist ist jedes Mal anders – aber er schlägt zu.
IMDb: The Sixth Sense IMDb: Fight Club