Mehr Fehltage im Job: In der Falle: Den größten Stress machen wir uns selbst

Wenn der Job krank macht: Viele Menschen arbeiten, bis es nicht mehr geht – oder länger. Für Stress sorgen aber nicht nur Arbeitsmenge oder Zeitdruck. Eine neue Studie sagt: Es liegt vor allem an uns.

Es gibt Menschen, die stolz darauf sind, an oder sogar über ihre Belastungsgrenzen zu gehen, um alles möglichst perfekt zu erledigen. Auf ihnen lastet enormer Druck. Aber: Sie leiden weniger unter den Arbeitsbedingungen im Job, der puren Menge an Arbeit oder Krach mit dem Chef, sondern unter den hohen Ansprüchen an sich selbst – die Kaufmännische Krankenkasse KKH spricht von der „Perfektionismus-Falle“.

Nach einer neuen Forsa-Umfrage im Auftrag der Krankenversicherung fühlen sich 43 Prozent der Berufstätigen häufig massiv unter Druck – jede und jeder Siebte sogar sehr häufig, wie die KKH in Hannover mitteilte. Weitere 43 Prozent fühlen sich gelegentlich gestresst im Job. Die Gründe dafür sind eindeutig: Etwa zwei Drittel (65 Prozent) der Befragten fühlen sich von den eigenen Erwartungen unter Druck gesetzt, ihre Arbeit bestmöglich zu erledigen. Zugleich steigt laut Daten der KKH-Versicherten bundesweit die Zahl der Fehltage im Job wegen stressbedingter psychischer Leiden.

Perfektionismus und Zeitdruck größte Stresstreiber

Für die Untersuchung befragte das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag der KKH vom 1. bis 8. Juli bundesweit 1.001 berufstätige Menschen im Alter von 18 bis 70 Jahren repräsentativ. Die Krankenversicherung zählt mit rund 1,6 Millionen Versicherten zu den größten bundesweiten Kassen. 

Ein fast ebenso großer Stresstreiber wie der eigene Perfektionismus ist der Umfrage zufolge der Zeitdruck im Arbeitsalltag (62 Prozent) – der damit deutlich vor der Erwartungshaltung anderer (40 Prozent) liegt. Jeweils rund ein Drittel der Berufstätigen fühlt sich von zu vielen Überstunden (36 Prozent) beziehungsweise zu hohen Leistungsanforderungen (32 Prozent) gestresst. Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben (27) oder ein zu geringes Gehalt (23) belasten jeweils etwa jede und jeden Vierten. Auch schlechte Stimmung im Team und Mobbing (21) oder die Kontrolle durch Vorgesetzte (19) lösen Stress aus. 

Mehr Fehltage wegen stressbedingter psychischer Probleme

„Unsere Umfrage zeigt, dass Stress sehr individuell wahrgenommen und stark von der eigenen Einstellung beeinflusst wird“, sagte die KKH-Arbeitspsychologin Antje Judick. Zunächst einmal sei das eine gute Nachricht, weil sich daran arbeiten lasse. Stress gelte in der Leistungsgesellschaft häufig als Statussymbol und Perfektionismus als Zeichen von Leistungsfähigkeit. Auch hätten sich die ständige Erreichbarkeit etwa via Smartphone und verschwimmende Grenzen zwischen Beruf und Privatleben „mittlerweile wie selbstverständlich etabliert“.

Dabei ist der Umfrage zufolge gut jeder vierte Berufstätige (28 Prozent) schon einmal wegen des Drucks und der Belastungen im Arbeitsleben ausgefallen. Bundesweite Daten zur Arbeitsunfähigkeit von KKH-Versicherten zeigen zudem, dass die Zahl der Fehltage wegen stressbedingter psychischer Probleme steigt – darunter akute Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen: Im ersten Halbjahr 2024 kamen demnach 109 Fehltage auf 100 ganzjährig versicherte KKH-Kunden – nach 105 im Vorjahreszeitraum. 2019 waren es erst 75 Fehltage je 100 Erwerbstätige. 

Zahl der Fehltage wegen Burn-out steigt

Bei depressiven Episoden registrierte die Krankenkasse in dem Fünfjahresvergleich einen Anstieg von 89 auf 102 Tage pro 100 Versicherte. Burnout – meist als Syndrom zu Beginn einer Stresserkrankung oder im Zuge weiterer seelischer Leiden diagnostiziert – lag demnach im vergangenen Jahr bei 11 Tagen pro 100 Erwerbstätige, im ersten Halbjahr 2024 bei 10 Tagen. 2019 waren es 8 Tage. Das sogenannte Ausbrennen gilt als schleichender Prozess, wer nicht gegensteuert, setzt laut Kasse eine Abwärtsspirale in Gang.

Immerhin gehören Überstunden nach Zahlen des Statistischen Bundesamts nur für eine Minderheit der Arbeitnehmer in Deutschland zum beruflichen Alltag. Rund jede und jeder Achte arbeitete demnach im vergangenen Jahr mehr als im Arbeitsvertrag festgelegt. Hochgerechnet leisteten 4,6 Millionen Menschen Mehrarbeit, wie das Bundesamt unter Berufung auf Antworten aus dem Mikrozensus mitteilte. Das entspricht einem Anteil von 12 Prozent der knapp 39,3 Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.

Weiterer Stressfaktor: Angst vor Krieg und Krisen

Für 40 Prozent der Menschen, die Mehrarbeit leisten, ist diese mit höchstens fünf Stunden pro Woche erledigt. Knapp ein Fünftel (19 Prozent) gab aber mehr als 15 Überstunden pro Woche an. Und: Rund 20 Prozent und damit mehr als 900.000 Menschen leisteten nach eigenen Angaben unbezahlte Überstunden.

Ein weiterer Stressfaktor für die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland: Angst vor Krieg und Krisen. Wie die Swiss-Life-Versicherung im März nach einer entsprechenden Yougov-Befragung bekanntgab, liegen diese Ängste noch vor persönlichen Fragen wie finanziellen Sorgen oder Krankheiten. Auch die Zunahme der Naturkatastrophen in den vergangenen Jahren löst demnach bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung Sorgen aus – und die Angst vor Katastrophen sorgt für Stress. 

Frauen kämpfen mehr mit Stress

Berufstätige Frauen haben der Forsa-Umfrage im Auftrag der KKH zufolge besonders mit Stress zu kämpfen – 20 Prozent der befragten Frauen fühlten sich sehr häufig gestresst, bei Männern waren es 11 Prozent. Arbeitspsychologin Judick erklärte, die Erwartung, sowohl in der Rolle der Mutter als auch bei der Karriere zu glänzen, setze viele Frauen unter immensen Druck.

Die Grünen forderten daher das Recht auf Homeoffice. „Das Homeoffice ist gerade für Frauen wichtig, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen“, sagte die Grünen-Arbeitsmarktpolitikerin Beate Müller-Gemmeke dem „Tagesspiegel“. Im Koalitionsvertrag ist festgelegt, dass Arbeitnehmer künftig ein Recht auf Homeoffice erhalten sollen. Dieses Ziel ist bislang nicht umgesetzt worden.

Psychische Erkrankungen 2023 auf bisher höchstem Stand

Laut Krankenkasse sind die Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen insgesamt seit 2017 deutlich gestiegen – und erreichten im vergangenen Jahr den bisher höchsten Stand: Während zu Beginn der entsprechenden Auswertung im Jahr 2017 noch 298 Krankheitstage auf 100 ganzjährig versicherte Berufstätige kamen, sind es inzwischen 388 Tage.