Hoteleinsturz von Kröv: Einsatzleiter von Rettungsaktion: „Keine Panik, kein Wimmern, keine Schreie“

Sieben eingeschlossene Menschen wurden nach dem Einsturz eines Hotels an der Mosel gerettet. Einsatzleiter Jörg Teusch berichtet, wovor sich die Helfer am meisten fürchteten.

Herr Teusch, es heißt, die Rettungsaktion in Kröv sei der Einsatz Ihres Lebens gewesen. Stimmt das?
Zumindest einer meiner außergewöhnlichsten Einsätze von mehreren tausend in 35 Jahren. Denn dass ein Gebäude ohne äußere Einwirkung einstürzt, ist sehr selten in Deutschland. 

Worauf hatten Sie sich eingestellt, als der Alarm kam? 
Ich schaute an jenem Abend Olympia, als sich mein Melder bemerkbar machte. Auf dem Display stand „Gebäudeeinsturz Hotel“. Darauf rief ich die Leitstelle an. Ungewöhnlich schien mir, dass es nur einen einzigen Notruf gegeben hatte.

Zur Person Kröv

Sie dachten an eine Falschmeldung? 
Ja. Auf der Autofahrt nach Kröv bekam ich die Meldung, dass eine niederländische Frau mit ihrem zweijährigen Sohn unter den Trümmern eingeschlossen ist. Ich habe vom Auto aus THW, Rettungshundestaffel und technische Einsatzleitung alarmiert und gehofft, dass es keine weiteren Verschütteten gibt. Als ich in der Dunkelheit auf das Hotel zulief, sah ich, dass das erste Obergeschoss eingestürzt war, alle Eingänge zum Hotel waren verschüttet. Ein Feuerwehrkollege berichtete von Rufen aus dem Gebäude. Wir mussten davon ausgehen, dass weitere Personen lebendig verschüttet sind. 

Wie konnten Sie die orten?
Die Hoteleigentümerin, die sich aus dem Haus retten konnte, war vor Ort. Die Feuerwehr konnte auf dem Tisch der Rezeption, die nicht verschüttet war, das Gästebuch sicherstellen. Darin standen die Namen von 14 Gästen. Nachbarn hatten bereits fünf Gäste aus dem zweiten Obergeschoss gerettet. Damit war klar, dass noch neun Menschen unter den Trümmern eingeschlossen waren – acht Gäste und der Hotelbesitzer. Seine Frau hatte vorher an die Türen der Zimmer geklopft und die Gäste aufgefordert, zu packen. 

Interview Statiker 19.22

Warum?
Sie hatte ein Knirschen im Haus gehört. Ihr Mann stand bereits auf der Straße, um die Leute zu einem anderen Hotel zu begleiten. Doch dann ging er nochmals ins Haus, genau in dem Moment kam ihm die Treppe entgegen, das Haus brach zusammen. Die Gäste standen im Flur des ersten Obergeschosses. Es hätte nur noch zehn oder 15 Minuten gedauert hat, bis es alle rausgeschafft hätten. Das war sehr tragisch, und kostete den Hotelier und eine Frau, die Gast war, das Leben. Die Eigentümer hatten wohl alles getan an Fürsorge für ihre Gäste.

Ist es für diesen Schluss nicht zu früh? Es soll schon davor einen deutlich sichtbaren Riss im Gemäuer gegeben haben, der Kaufinteressenten abgeschreckt hatte. 
Ob es Versäumnisse gab, müssen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft zeigen, die einen Sachverständigen beauftragt hat und beispielsweise klären muss, welchen Einfluss Bauarbeiten am Vortag hatten. Fakt ist, das Hotel sollte verkauft werden. Die neuen Käufer hatten Risse festgestellt, also irgendetwas war – von allein stürzt ein Haus nicht ein. 

Die Situation in Kröv galt als besonders anspruchsvoll. Hatten Sie Spezialisten im Team, die sich mit der Rettung von Verschütteten auskannten? 
Wir hatten ein halbes Dutzend Einsatzkräfte vom THW dabei, die nach dem Erdbeben in der Türkei an Rettungen beteiligt waren. Wir sind vernetzt wie eine große Familie. Ich hatte zwei Lehrgänge zum Thema Gebäudeeinsturz besucht und kannte die Grundtaktik. Aber diese Leute vom THW waren Profis, die regelmäßig Auslandseinsätze nach Erdbeben machten, sie waren sehr hilfreich. Als Einsatzleiter ist es wichtig, die maximale Expertise anzufordern. 

Wie groß war der Zeitdruck, unter dem Sie standen?
Der ist bei Verschütteten immer groß. Sie wissen ja nicht, wie deren Physis ist, wie stark sie eingeklemmt sind. Eine Rettung kann zwei bis drei Tage dauern, das weiß man aus Erdbebengebieten. 

Wann wird es kritisch für die Eingeschlossenen?
In der Türkei wurden Menschen nach mehr als 100 Stunden gerettet. Allerdings wird die Wahrscheinlichkeit nach 24 Stunden immer geringer, wenn Körperteile abgequetscht werden und keine Blutzirkulation mehr stattfindet, das sogenannte Crush-Syndrom, Dann droht der Bergetod.

Was ist das?
Wenn ein Körperteil längere Zeit abgequetscht wird, beginnt in den Zellen die Eiweißsynthese. Plastisch ausgedrückt: Das abgequetschte Gewebe fängt an, zu verwesen – weil es vom Kreislauf getrennt ist. Das Blut wird in diesem Körperteil hochtoxisch. Wenn Sie die Person befreien, kann es durch den Rückfluss des vergifteten Blutes zum Herzen zum Multiorganversagen kommen. Nieren und andere Organe versagen, das nennt man auch den „lachenden Tod“.

Ihre Sorge war, dass in Kröv so etwas passieren könnte?
Die Befürchtung war unter den Rettern permanent präsent: Sie sprechen stundenlang mit jemand, der eingeklemmt ist und der versichert: Mir geht es gut. Dann ziehen sie ihn raus, er freut sich über die Rettung – und im selben Augenblick ist er tot. Wenn beispielsweise die Beine komplett abgeklemmt sind, reicht schon eine Stunde, damit dieses Phänomen auftritt. Deswegen war ich so glücklich, dass wir alle Sieben binnen 24 Stunden rausbekommen haben. Einem Geretteten allerdings geht es seit einigen Tagen schlechter. 

Sie meinen den Vater des zweijährigen Jungen, der ins künstliche Koma versetzt werden musste. In welchem Zustand war er nach der Rettung?
Zum Zeitpunkt der Rettung gingen wir davon aus, dass es ihm gut geht. Wir wussten, dass er Verletzungen hat, Knochenbrüche. Es war nicht abzusehen, dass sich der Zustand dramatisch verschlechtert.

War klar, dass er eingeklemmt war?
Ja. Einklemmungen hatten auch zwei weitere Verschüttete, bei ihnen ist dieses Syndrom nicht aufgetreten, das ist individuell verschieden. Wir haben schon während der Rettung darauf geachtet, dass man medizinisch interveniert. 

Wie ist das möglich unter Trümmern? 
Schwierig. Er bekam Infusionen, ganz viel Flüssigkeit, um das Blut zu verdünnen, damit im Fall einer Vergiftung die Nieren keinen Schaden nehmen. Aber in dieser Situation sind die medizinischen Möglichkeiten sehr begrenzt.

Wie lange dauerte seine Rettung? 
Zwölf Stunden. Er wurde als Vierter geborgen. Die ersten drei – seine Frau, den kleinen Sohn und eine weitere Verschüttete – hatten wir nach zehn Stunden raus, danach kam der Ehemann, und mit gewissem Zeitabstand zwei weitere Männer. Zuletzt eine Frau, sie wurde nach fast 24 Stunden gerettet. Ohne abgeklemmte Körperteile können Menschen mehrere Tage überleben, wenn sie in einem Hohlraum sitzen und nicht verletzt sind. Wer dagegen – wie dieser Mann – unter einem schweren Trümmerstück eingeklemmt liegt, braucht nicht nur Retter, sondern auch viel Glück.

Wie konnten Sie Kontakt zu den Verschütteten herstellen? 
Die Niederländerin konnte mit ihrem Handy Hilfe rufen, den Handy-Kontakt haben wir aber bald reduziert, um den Akku zu schonen. Zu den anderen Verschütteten schoben wir Mikrofone an langen Sonden durch Löcher oder Spalten. Mittels Kernbohrungen konnten wir mit der Taschenlampe reinleuchten und Sichtkontakt herzustellen. Damit ließ sich beurteilen, welche Verletzungsmuster es bei den sieben Überlebenden gab. Durch ein Bohrloch konnten wir die Frau versorgen, die als letzte gerettet wurde.

Womit genau?
Mit sogenannten Quetschies, das sind Fläschchen mit Obst, die man ausquetschen kann. 

Wie konnten Sie in diesem Trümmerhaufen die genaue Lage der Opfer orten? 
Glücklicherweise hatten wir die Gästeliste und konnten eingrenzen, in welchem Zimmer sie waren. Wir bekamen relativ schnell auch Pläne des Hotels. Obwohl sich das ganze Haus verschoben hatte, konnten wir lokalisieren, wo etwa die Leute sind. Als nächstes setzten wir Trümmerhunde ein, die Laut gaben, wo sie Menschen witterten. Dadurch wurde klar, sie sind im Flur. Darauf ließen wir Sonden mit Mikrofonen in die Tiefe und forderten die Verschütteten auf, zu klopfen oder zu rufen. Das sind sehr feine Geräte, die jede Schwingung aufnehmen. Dank der Hunde und der Sonden konnten wir die Suche so weit verfeinern, dass wir auf dem Plan markieren konnten, wer wo eingeschlossen ist. 

Was sind die besonderen Herausforderungen bei einem eingestürzten Haus?
Normalerweise gehen wir rein und holen die Person raus. Ein Gebäudeeinsturz verlangt eine andere Taktik. Nach der ersten Erkundung hatten wir ein Lagebild, danach musste zuerst das Gebäude stabilisiert werden. Wir konnten nicht beliebig viele Zugänge schaffen, denn dann wäre dieses Kartenhaus womöglich eingestürzt. Es musste auch für die Helfer sicher sein, da reinzugehen. 

Wie lässt sich ein Trümmerhaufen sichern? 
Beim THW Koblenz hatte ich ein sogenanntes Einsatzstellen-Sicherungssystem angefordert, das vor weiteren Einstürzen warnt, es wurde beispielsweise auch nach dem Einsturz des Stadtarchivs in Köln eingesetzt. Dazu werden Referenzmarken an Trümmerteile geklebt. Mit Hilfe eines Theodolits, ein Messinstrument für Winkel, erkennt das System millimetergenau jede Bewegung des Gebäudes. Diese Technik zeigte an, was das menschliche Auge nicht – oder zu spät – wahrnimmt. Während der Rettungsaktion beobachteten Fachleute ständig die Ausschläge auf den Messinstrumenten: Bewegt sich da was? 

Und bewegte sich was?
Ja, das Hotel bewegte sich während des Einsatzes mehr als zwei Zentimeter nach rechts, etwa einen Millimeter pro Stunde. Wir hatten vereinbart, wenn sich das Haus schlagartig um mehr als einen Zentimeter bewegt, schrillt ein Warnton und alle Retter müssen sofort raus. Wir hatten Kranwagen zur Stabilisierung vor Ort und bauten in den Zugang Holzversteifungen wie im Bergbau, damit nichts nachrutscht. 

Hört sich enorm aufwändig an.
Es ging auch um die Sicherheit der Rettungskräfte. Man muss als Einsatzleiter ein kalkulierbares Risiko schaffen. Ein Restrisiko bleibt dennoch. Immer.

Drohte bei einer Verschiebung von zwei Zentimetern ein weiterer Einsturz?  
Das mussten die Bauingenieure minütlich neu bewerten. Wenn eine Bodenplatte rutscht, heißt das nicht, dass gleich das ganze Haus einstürzt. Es hing zum Beispiel der Giebel nach außen, er hätte herunterfallen können, das hätte dazu geführt, dass die umgebende Struktur mit eingebrochen wäre. Die war aber nicht im Bereich der Verschütteten und hätte nach der Einschätzung der Ingenieure keine Opfer oder Helfer betroffen. Allerdings: Mir wäre wohler gewesen, wenn ich hätte sagen können, hier kann nichts passieren. 

Was sagt man einer jungen Frau, die mit ihrem Kind da unten liegt und nicht weiß, ob sie und ihre Familie lebendig rauskommen? 
Die Wahrheit. Niemals versprechen, was man nicht einhalten kann. Beispielsweise: Ich hole Sie jetzt raus. Man erklärt die Schritte. Man erklärt: Sie sind sicher, aber es wird noch dauernd. Der Mensch ist in dieser Ausnahmesituation so auf sein Überleben fokussiert, dem machen Sie nichts vor. Der denkt an nichts anderes als an seine Situation. Das Schlimmste, was Sie machen können, ist zu versprechen, wir holen Sie in einer Stunde raus – und dann sind es fünf. 

Waren Sie so sicher, dass Sie alle retten können?
Das war das Ziel, und davon waren wir überzeugt. Wenn man selbst nicht an die Rettung glaubt, wird sie nicht funktionieren. Das Selbstbewusstsein braucht es, damit man andere überzeugen kann. Ich habe gesagt, selbst wenn der Einsatz fünf Millionen kosten sollte, Geld darf keine Rolle spielen, wenn es um Menschenleben geht. Wir holen die raus! 

Hatten Sie Kontakt zu dem schwerverletzten Niederländer? 
Wir konnten mit allen Überlebenden sprechen. Das war ein hoher Motivationsfaktor für Einsatzleitung und Rettungskräfte: Man wusste, die leben. 

Was teilten die Verschütteten den Helfern mit?
Die Helfer sagten: Wir machen jetzt das, merken Sie, dass sich etwas bewegt? Alle wirkten sehr klar, ruhig und fokussiert. Es gab keine Panik, kein Wimmern, keine Hilfeschreie. Dabei waren die Männer verletzt. Diese Verschütteten waren auch Helden. 

Kaum zu glauben, dass Menschen in so einer Situation in der Lage sind, konstruktiv zu sein. 
Da muss ich deutlich widersprechen. Es wurden hochkonzentrierte Gespräche geführt. Es wurde sogar auch mal gelacht. Das waren teils rührende Gespräche. Die Dame, die am Schluss rauskam, hat sich immer wieder für jede Aktion bedankt. Über viele Stunden hinweg bauen Helfer und Verschüttete eine Beziehung und Vertrauen auf. Sie wussten, dieser Mensch, der mit mir spricht, wird alles tun, mich rauszuholen. Das war auch für mich kein alltäglicher Einsatz. Die Ruhe dieser Gespräche hat mich sehr überrascht.

Sie meinen die Ruhe der Verschütteten?
Auch die der Helfer. Es war eine sehr ruhige Atmosphäre, weil jeder fokussiert war und es einen Bezug zueinander gab.

Die junge Frau aus den Niederlanden hatte ihr zweijähriges Kind bei sich, sie wusste nicht, ob ihr Mann überlebt hat. Da lägen Verzweiflung und Panik nahe.
Ihr half offenbar ihr Glaube und ihr Gottvertrauen. Sie schrieb in ihren Postings, sie habe gebetet – für ihren Mann, für alle. Ich bin kein Vorzeigekatholik, aber froh, wenn Beten dem Verunglückten hilft. Das wiederum hat uns allen geholfen.

Welche Rolle spielte Glück bei diesem Einsatz? 
Ein Glück war, dass die Gäste beim Einsturz im Flurbereich waren. Und dass durch die Konstruktion der Wände und Türen ein keilförmiger Hohlraum entstand, das war der Überlebensraum für die Opfer. Wären die beiden massiven Deckenplatten aufeinander gestürzt, hätten wir niemand darunter retten können.

So wie den Hotelbesitzer und die Frau, die zu Gast war. 
Er wurde von tonnenschweren Trümmerteilen getroffen und war sehr wahrscheinlich sofort tot. Sie war eingeklemmt. In beiden Fällen sind die Ermittlungen der Behörden der Behörden und das Obduktionsergebnis abzuwarten.

Sie und die Rettungsteams bekamen viel Anerkennung. Wird Kröv ein Lehrbeispiel für künftige Einsätze sein?
Es wird sicher so sein, dass unsere Erfahrungen und unser Material in Vorträgen und Fachpublikationen analysiert werden. Wir haben 24 Stunden Drohnenaufnahmen von der Unglücksstelle, tausende Fotos aus dem Innenbereich, die nun Teil des Ermittlungsverfahrens sind. Es wird Wochen dauern, bis man das ausgewertet hat. 

Was kann man daraus lernen?
Dass es bei einem Einsturz sehr wichtig ist, schnell Ressourcen zusammenzuziehen: Ortungsgeräte, Trümmerhunde, schweres Bergungsgerät. Wir haben halb Rheinland-Pfalz alarmiert. Und: Es bringt in extremen Situationen gar nichts, wenn die Retter etwas überstürzen. Hätten wir an diesem Kartenhaus an der falschen Karte gezogen, hätten wir vielleicht neun Tote gehabt. Auch wenn einem die Ungeduld aus den Ohren rauskommt, muss man einen Plan entwickeln und immer einen Plan B haben. Und an ihn glauben. 

Was war Ihr Plan B?
Plan A, den Zugang zum Hotel von unten, mussten wir aufgegeben, als wir erkannten, dass uns eine 40 Zentimeter dicke Betondecke im Weg lag. Darauf haben wir Zugänge von der Seite gewählt – Plan B. Plan C gab es auch: das Dach mit zwei Baukränen abzuheben. Dabei hätten wir allerdings riskiert, nicht alle retten zu können. Wir waren in der glücklichen Lage, dass dieser Plan nicht zum Tragen kam. Dafür bin ich dem lieben Gott dankbar.