Die Zahl der Krankschreibungen steigt in Deutschland, auch wegen psychischer Überlastung. Eine Ärztin erzählt, wie sie auf diese Entwicklung blickt, wen sie krank schreibt und wen nicht.
Dieser Text vom April 2924 stammt aus unserem Archiv. Wir veröffentlichen ihn an dieser Steller erneut.
Ich bin seit über 20 Jahren niedergelassene Hausärztin in Hamburg-Langenhorn. Ich schätze, dass ich rund ein Viertel meiner Patienten krankschreibe. Inzwischen sehr viel häufiger aufgrund psychischer Krankheiten als noch zu meiner Anfangszeit. Der wachsende Druck in der Arbeitswelt macht die Leute krank. Ob und wie lange ich Menschen krankschreibe, variiert von Fall zu Fall. Aber es gibt Muster, die sich wiederholen. Erst einmal gilt: Wenn jemand über Schmerzen klagt, ist es mein Beruf, seine Symptomlast anzunehmen. Ich kann nicht jede Schilderung hinterfragen. Bei manchen Patienten aber lohnt es sich nachzubohren. Und die, die dreist lügen, lasse ich relativ schnell auflaufen.
Die, die lügen, lasse ich relativ schnell auflaufen.
Nachbohren hilft bei denen, die etwas unbeholfen flunkern. Sie bräuchten wegen Überlastung eine Krankschreibung, bei ihnen stehen aber andere Gründe im Mittelpunkt. Bei vielen sind das körperliche Symptome, zum Beispiel Kopfweh. Aber ich habe viele Jahre als Psychotherapeutin gearbeitet und weiß: Menschen kommunizieren zu 70 Prozent nonverbal. Wenn ich das Gefühl habe, das Nonverbale stimmt mit dem Gesprochenen nicht überein, dann frage ich nach: „Bedrückt sie noch etwas anderes?“ Ich formuliere möglichst freie Fragen, sodass die Person spürt, dass ich Platz frei schaufle, für alles, was in ihr drinnen ist. Meist erfahre ich so, was dahintersteckt. Dass der Vater mit einer Tumordiagnose im Krankenhaus liegt. Ich finde, in solchen akuten Belastungssituationen kann man Menschen auch mal für drei Tage krankschreiben.
Vorgeschobene Gründe für eine Krankschreibung – was ist der wahre Anlass?
Andere geben bei der Anmeldung Krankheiten wie Durchfall an und rücken dann im Behandlungszimmer schnell mit der Wahrheit raus: Dass sie wegen einer anderen Sache eine Krankschreibung brauchen. Mit denen suche ich dann erst einmal das Gespräch, versuche die Hintergründe zu verstehen. Wie schwer ist die Belastung? Wie groß ist die Gefahr, dass die Person aufgrund der Belastung den Betrieb lahmlegt?
Wer zum Beispiel unter Liebeskummer leidet, kriegt von mir keine Krankschreibung. Man kann niemanden krankschreiben, bis eine Trennung überwunden ist. Zuhause sitzen löst den Kummer nicht, und die Arbeitsfähigkeit ist nicht wirklich beeinträchtigt. Wenn jemand wegen solchen Dingen ganz verzweifelt ist, dann schreibe ich die Person vielleicht ein oder zwei Tage krank und vereinbare einen Folgetermin. Wenn ich das Gefühl habe, jemand möchte mit mir Spielchen spielen, sind Folgetermine überhaupt ein gutes Werkzeug: Ich gebe den Leuten das Gefühl, sie ernst zu nehmen. Gleichzeitig kann niemand wegfahren, wenn er noch mal zum Arzt muss. Und es ist natürlich auch anstrengender, über zwei Sitzungen zu flunkern.
Wieder andere kommen und erzählen von Schlafstörungen, darüber, wie sie sich sorgen, dass sie die Arbeit nicht schaffen. Ich habe den Eindruck, die erwarten oft, dass ich ihnen Medikamente verschreibe. Kenne ich die Patienten lange, dann schlage oft sogar ich vor, ein paar Tage Pause zu machen. Solche Menschen schreibe ich oft direkt eine Woche lang krank. Die brauchen diesen Anstupser, um mal zur Ruhe zu kommen. Meistens wollen sie gar nicht so lang krankgeschrieben werden.
Arbeitsrechtlerin zu telefonische Krankschreibung 12:56
Die, die wirklich lügen, erkennt man häufig an der Art und Weise, wie sie dasitzen. Die Schultern ein wenig nach vorne gezogen, der Nacken angespannt, sie blicken nach unten. Dazu die Stimme: Die ist ganz monoton, die hat kein Auf und Ab, wie in normalen Gesprächen. Die leiern etwas herunter. Von denen haben wir auch ein paar Pappenheimer in unserer Praxis. Die erwische ich allerspätestens mit einem Blick ins System. Wenn dort steht, dass sie vor sechs Wochen die gleiche Erschöpfung hatten und sich damals auch eine Krankschreibung wünschten, sage ich ihnen, dass man auch unausgeschlafen zur Arbeit gehen kann. Mitleid habe ich mit denen nicht. Viele werden mehr als eine Hausärztin haben. In Hamburg allein gibt es über 600, die Auswahl ist riesig. Ich weiß nicht, bei wie vielen Ärzten die Person war, bevor sie zu mir kam. Das können wir in unserem Gesundheitssystem nicht kontrollieren. Wer eine Krankschreibung will, wird sie bekommen. Man muss nur durch genug Wartezimmer tingeln.
Wer eine Krankschreibung will, wird sie bekommen.
Es gibt eine Situation, da finde ich die Entscheidung, ob ich jemanden krankschreibe, besonders schwierig: Wenn der Grund eine Kündigung ist. Da fällt oft der Satz: „Ich kann da nicht mehr hin“ und wenn ich dann frage: „Warum?“, kommt oft keine Antwort. Oder eine, die vermuten lässt, dass sich jemand drücken will. Ich bin da immer sehr im Zwiespalt. Manche motiviere ich und sage: „Das schaffen Sie schon.“ Bei anderen habe ich das Gefühl, zurückzukehren wäre tatsächlich eine Qual. Zum Beispiel bei Menschen, die schon lange mit der Arbeit hadern, wo die Idee der Kündigung vielleicht sogar von mir kam.
Ich schreibe Menschen in der Regel maximal eine Woche krank, selten über eine Woche hinaus. Das passiert beispielsweise bei chronischen Krankheiten oder Fällen wie schweren Depressionen.
Die meisten kommen am ersten Tag ihrer Krankheit. Die, die erst am dritten Tag kommen – also an dem Tag, an dem man meist eine Krankschreibung für den Arbeitgeber braucht – mag ich nicht so gern. Das hat arbeitsrechtliche Gründe. Mit meiner Unterschrift unter der Krankschreibung versichere ich mich, dass ich mich überzeugt habe, dass der Patient all die Tage krank war. Aber woher weiß ich, ob der am Freitag vor vier Tagen wirklich schon krank war? Ungünstig ist es auch, wenn Leute am Montag Morgen kommen und bis Freitag krankgeschrieben werden wollen. Das mache ich selten.
Insgesamt merkt man, dass sich das Verhältnis zum „kranksein“ ändert. Früher war es heldenhaft, krank in die Arbeit zu gehen, nahezu auszeichnungsverdächtig. Das ist heute ganz anders. Spätestens seit Corona wird zumindest bei Infekten die Gefährdung der Kollegen gesehen. Man hat inzwischen verstanden, dass es im Krankheitsfall sinnvoll für alle ist, zu Hause zu bleiben.
Gleichzeitig gibt es mehr psychische Beschwerden – durch Arbeitsbelastung, soziale Härten oder Einsamkeit. Auch hier hat sich viel verbessert, doch herrscht teilweise der Eindruck, sie seien kein Grund für eine Krankschreibung. Mir ist es wichtig, zu betonen, dass solche Diagnosen nicht vom Himmel fallen. Dafür gibt es eine klare Definition: den Symptomkatalog aus dem ICD-10. Sind diese Kriterien erfüllt, dann hat die Person einfach eine Depression. Sie ist sehr krank und kann nicht arbeiten. Und zwar über Wochen oder Monate. Fertig.
Es kann sein, dass es schwarze Schafe gibt, die die Symptome auswendig lernen und mir ihren Trübsinn ausmalen. Aber von denen gibt es ganz, ganz wenige. Ich werde meine Energie sicherlich nicht darauf verwenden, diesen Einzelnen zu erfassen.