In Indien sind am Samstag landesweit Ärzte nach der Vergewaltigung und Ermordung einer Kollegin in den Streik getreten. Nicht dringend notwendige Operationen und ambulante Behandlungen wurden bei einem „landesweiten Rückzug aus dem Dienst“ ab Samstagmorgen (Ortszeit) für 24 Stunden ausgesetzt, zu den Protesten hatte der Ärzteverband IMA aufgerufen. In mehreren Städten forderten Demonstranten ein härteres staatliches Vorgehen gegen sexuelle Gewalt und bessere Arbeitsbedingungen für Ärzte.
Bei einer Ärzte-Kundgebung in der Hauptstadt Neu-Delhi war auf Plakaten der Slogan „Genug ist genug“ zu lesen – auf anderen „Hängt den Vergewaltiger“. In der Stadt Kolkata im Nordosten des Landes hielten tausende Menschen bis in die frühen Morgenstunden eine Mahnwache bei Kerzenlicht ab. Auf dem Transparent eines dortigen Protestteilnehmers war zu lesen: „Hände, die heilen, sollten nicht bluten.“
Durch den Streik wurden insbesondere ambulante Dienstleistungen erheblich eingeschränkt. Im stark frequentierten staatlichen Krankenhaus Ram Manohar Lohia in Neu-Delhi wurden zahlreiche Patienten trotz zuvor vereinbarter Termine abgewiesen. So etwa der 50-jährige Shivdev Kumar, der rund 20 Kilometer gereist war, um die Tuberkulose-Befunde seiner Tochter zu besprechen.
„Wir bitten um das Verständnis und die Unterstützung der Nation in diesem Kampf für Gerechtigkeit für ihre Ärzte und Töchter“, hatte IMA-Chef R.V. Asokan mit Blick auf den Ausstand erklärt.
In einem staatlichen Krankenhaus in Kolkata war am 9. August eine 31-jährige Ärztin tot aufgefunden worden. Sie wurde im Seminarraum des Lehrkrankenhauses gefunden, wo sie sich offenbar während einer 36-Stunden-Schicht ausgeruht hatte. Eine Autopsie bestätigte, dass die Frau vergewaltigt wurde. Ihre Familie ging von einer Gruppenvergewaltigung aus.
Das Gewaltverbrechen löste landesweit massive Proteste aus. Anfang der Woche streikten Beschäftigte staatlicher Krankenhäuser in mehreren Regionen Indiens während einzelner Dienste.
Die Polizei hat bislang einen verdächtigen Krankenhausmitarbeiter festgenommen. Die Demonstranten werfen den Behörden jedoch vor, nicht gründlich genug zu ermitteln. Das Oberste Gericht der Stadt übertrug die Ermittlungen daher an das Central Bureau of Investigation, um „das Vertrauen der Öffentlichkeit zu stärken“. Es handelt sich dabei um eine Ermittlungsbehörde auf Bundesebene.
Zunächst gingen in Kolkata tausende Menschen auf die Straße. Am Freitag folgte der IMA-Streikaufruf des Ärzteverbandes, der das Tötungsdelikt als „barbarisch“ bezeichnet hatte.
Dass sich die getötete Ärztin in einer 36-Stunden-Schicht befunden habe und ihr keine sicheren Räume zum Ausruhen zur Verfügung gestanden hätten, erfordere eine „grundlegende Neugestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen angestellter Ärzte“, erklärte der IMA weiter.
Unter anderem forderten die Ärzte die Anwendung des Central Protection Act, eines Gesetzesvorhabens zum besseren Schutz von Angestellten im Gesundheitswesen vor Gewalt. Bei einer Protestveranstaltung in Neu-Delhi beklagte die 29-jährige angestellte Ärztin Akanksha Tyagi, es mangele an „ordentlicher Infrastruktur“. Wer 24 oder 36 Stunden in einer Schicht arbeite, habe keinen ordentlichen Ort zum Ausruhen.
Sexualisierte Gewalt gegen Frauen ist in Indien weit verbreitet. 2022 wurden in dem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern im Schnitt fast 90 Vergewaltigungen pro Tag gezählt. Wegen der Stigmatisierung der Opfer und mangelnden Vertrauens in Polizei und Justiz werden viele Fälle gar nicht angezeigt. Verurteilungen wegen Vergewaltigungen sind weiterhin selten, die Gerichtsverfahren ziehen sich oft jahrelang hin. Indiens Premierminister Narendra Modi hatte am Donnerstag eine rasche Bestrafung derjenigen gefordert, die „monströse Taten“ gegen Frauen begehen.
2012 hatte die Gruppenvergewaltigung einer indischen Studentin in Neu Delhi weltweit für Entsetzen gesorgt. Die 23-jährige Jyoti Singh wurde in einem Bus von fünf Männern und einem Jugendlichen angegriffen, vergewaltigt und mit einer Eisenstange misshandelt. Danach warfen die Männer ihr Opfer schwer verletzt aus dem Bus. Die junge Frau erlag später in einem Krankenhaus ihren Verletzungen.