Hamburg hat eine neue Attraktion: Der Flakbunker auf St. Pauli wurde mit einem Gründach aufgestockt, täglich wollen es rund 4000 Menschen besichtigen. Nicht alle finden das gut.
Diese Aussicht fasziniert, wenigstens darin sind sich alle einig. In manchem anderen noch nicht. Ein Weg mit 335 Stufen führt um den Bunker nach oben. Die Macher nennen ihn selbstbewusst Bergpfad, dabei erinnert er eher an eine Rampe mit Treppen, über die man in wenigen Minuten den 58 Meter hohen Gipfel erreicht. Unterwegs hat man einen Rundumblick auf Hamburg, alle paar Meter rutscht ein Wahrzeichen ins Blickfeld: Fernsehturm, Rathaus, Michel, Elbphilharmonie, dahinter der Hafen mit seinen Kränen. Und unten, ganz nah, liegen einem das Heiligengeistfeld und das Millerntor-Stadion zu Füßen, die Spielstätte des FC St. Pauli.
Unwillkürlich bleibt man stehen und lässt den Blick schweifen – hat man Hamburg so schon mal gesehen? Dann, 38 Meter in der Höhe, verengt sich der Weg ins Grüne: Der Bunker wurde durch fünf gestaffelte Geschosse aufgestockt, bepflanzt mit 4700 Bäumen, Gehölzen, Sträuchern und 16.000 Stauden. So ist ein Dachgarten von geradezu babylonischer Anmutung entstanden, mit mehr als 10.000 Quadratmeter großen Grün-, Gemeinschafts- und Fassadenflächen. Oben führt der Weg um einen Rasen, auf dem Apfelbäume Früchte tragen.
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„Ich war noch nie in meinem Leben so weit oben“, ruft ein Junge seiner Mutter zu. Ein Familienvater ist weniger euphorisch: „Ich habe mir die Grünfläche viel größer vorgestellt.“ Und eine Besucherin sagt: „Wie schön wäre es, wenn man hier picknicken könnte?“ Geht aber gerade nicht. Anfang Juli wurde der grüne Bunker eröffnet, am ersten Wochenende kamen 25.000 Besucher, im Schnitt sind es seither 4000 am Tag. Zu viele für den Rasen. Damit der sich erholt, wurde vorübergehend abgesperrt.
Betreten verboten: Um den Rasen auf dem Gründach zu schützen, wurde er vorübergehend gesperrt
© Patrick Slesiona
Es gibt noch andere Beanstandungen, die sich mit dem superlativen Projekt verbinden. Wer dem Bunker aufs Dach steigt, läuft auch hinein in einen sehr deutschen Streit.
Unten, an der Feldstraße, kontrollieren Sicherheitsleute vor Drehkreuzen die Taschen und Rucksäcke. Essen und Trinken dürfen nicht mit, man fürchtet, sie könnten runterfallen oder die Wege vermüllen. Jeder Meter ist videoüberwacht, um Vandalismus zu verhindern. Immerhin, auf dem Dachgarten werden bei gutem Wetter Snacks und Getränke verkauft.
Der Flakbunker: Vom Kriegsrelikt zum Medienzentrum
Dass sich an Hamburgs neuer Attraktion die Geister scheiden, liegt vor allem an der Geschichte des Bunkers, Ort des Grauens und Symbol für den Terror im Nationalsozialismus: Von 1942 bis 1943 errichteten 2400 Zwangsarbeiter den Flakturm IV, um die Hamburger im Zweiten Weltkrieg vor den Bomben der Alliierten zu schützen. Auf dem Dach feuerten minderjährige Flakhelfer aus vier Flugabwehrgeschützen ihre Munition in den Himmel, viele von ihnen fanden den Tod. Während der kleinere Leitbunker auf dem Heiligengeistfeld in den Siebzigern abgerissen wurde, blieb der große Bruder stehen. Axel Springer zog mit seinem Verlag ein, am 25. Dezember 1952 strahlte der NWDR von hier das erste offizielle Fernsehprogramm in Deutschland aus. 48 Zweizimmerwohnungen wurden bis 1972 genutzt.
Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg: Auf dem Bunkerdach standen einst Flakgeschütze zur Flugabwehr
© Patrick Slesiona
Ab 1990 baute man den Koloss zum Medienzentrum um. Heute beheimatet er einen Kammerkonzertsaal, die Wacken Metal Academy, die Hamburg School of Music und den Musik-Club „Uebel & Gefährlich“. Dessen Betreiber Wolf von Waldenfels wird auch die Georg-Elser-Konzerthalle in den neuen Etagen bespielen, die vormittags für Schulsport genutzt wird. Man hat versucht, es vielen recht zu machen, im Wissen, dass Ideen zur Begrünung schon lange kursieren.
1992 hatte Friedensreich Hundertwasser im „Hamburger Abendblatt“ eine Skizze mit Bäumen auf dem Bunkerdach publiziert. Seit 2013 erarbeitete der Werber Mathias Müller-Using mit seiner Agentur Interpol-Studios ein Konzept, den Bunker aufzustocken und mit einem öffentlichen Dachpark zu begrünen. Später übernahm der Investor Thomas Matzen das Projekt. Mit der Stadt Hamburg, Eigentümerin des Bunkers, hatte er bereits 1993 einen Erbpachtvertrag für die Nutzung ausgehandelt. Bis heute soll er rund 100 Millionen Euro ins Gebäude investiert haben, davon allein 60 Millionen Euro für Aufstockung und Begrünung. Die Hansestadt fördert das Projekt, bis Ende der Pacht im Jahr 2068 wird sie auf rund fünf Millionen Euro verzichten. Im Gegenzug hat sich der Investor im städtebaulichen Vertrag verpflichtet, eine öffentlich nutzbare Gartenlandschaft anzulegen, die für alle kostenfrei zugänglich ist und automatisch bewässert wird. Gründächer spielen für die Stadt eine wichtige Rolle. Sie machen Freiflächen nutzbar, halten Niederschläge zurück, kühlen und reinigen die Luft.
Logenplätze: Das Bar-Restaurant „Karo & Paul“ ist eines von drei Lokalen im neuen Aufbau
© Patrick Slesiona
In die neuen Etagen ist das Hotel „Reverb by Hard Rock“ eingezogen. „Hier dreht sich alles um Musik, das passt sehr gut zum Bunker und zu St. Pauli“, findet Marek Riegger, Geschäftsführer des Betreibers RIMC Hotel & Resorts. Es klingt ein bisschen wie Rechtfertigung in eigener Sache, denn natürlich waren auch manche dagegen, hier eine Hotelkette reinzulassen. Dabei ist Rieggers Familienunternehmen ein Hamburger Original, das etwa 30 Hotels in Europa betreibt und im Bunker dazu die Kaffeebar „Constant Grind“, das Lokal „Karo & Paul“ und das Restaurant „La Sala“. Täglich wird in Hotel wie Gastronomie Livemusik gespielt. Graffiti mit Musikmotiven schmücken die Gästezimmer, in den Gängen hängen Konzertfotos und -plakate. In Künstler-WGs können Studierende für wenig Geld bis zu sechs Monate wohnen. „Unser Ziel ist, dass der Bunker eine wichtige Begegnungsstätte wird, weil immer etwas los ist“, sagt Riegger. Mit dem Start ist er zufrieden. Die 134 Hotelzimmer, ab 144 Euro die Nacht, seien gut gebucht, und vor Kurzem hat das „Time Magazine“ das „Reverb“ zu einem der „World’s Greatest Places of 2024“ gekürt.
Geteilte Meinungen über das neue Hamburger Wahrzeichen
In Hamburg hat man Erfahrung mit umkämpften Großprojekten, die sich im Nachhinein umso schneller absolutieren, aus der Euphorie des Publikums heraus. So könnte es auch diesmal kommen, selbst wenn manche an ihrer Kritik festhalten.
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„Der denkmalgeschützte Bunker ist eines der wichtigsten Mahnmale der Stadt“, sagt Kristina Sassenscheidt, Geschäftsführerin des Denkmalvereins Hamburg. „Wir hätten uns gewünscht, dass er in seiner authentischen Form erhalten bleibt.“ Nur so könne er weithin sichtbar an die Schrecken der Naziherrschaft und des Zweiten Weltkriegs erinnern. „Es ist geschichtsvergessen, den Bunker mit einem grünen Hut zu verniedlichen und ihn so seiner Vermittlungskraft zu berauben.“ Eine öffentliche Plattform hätte gereicht, um Gästen die Aussicht zu ermöglichen, ohne das Denkmal durch Rampe und die Aufstockung mit dem, wie sie sagt, „Charme einer Tiefgarage“ zu verunstalten. Auch das Denkmalschutzamt war dagegen – ohne Erfolg. Im Viertel, für seine Protestkultur bekannt, gab es früh Bedenken, den Bunker kommerziell zu nutzen. Hilldegarden e. V. organisierte eine Bürgerbeteiligung. „Der Verein wurde 2015 gegründet, um Ideen zu entwickeln, wie der Bunker für den Stadtteil genutzt werden kann“, sagt Sprecherin Anita Engels. Viele davon seien auch eingeflossen, etwa Räume für temporäre Ausstellungen der Bunker Hill Gallery zu nutzen und sie kostenlos Stadtteilinitiativen zur Verfügung zu stellen. Auf Anregung von Hilldegarden hielten ein Zen-Garten Einzug, eine berankte Holzpergola und Flächen für Urban Gardening. Auf dem Bunkerkragen sollen in den nächsten Monaten 38 Hochbeete aufgestellt werden, damit Anwohner ab dem Frühjahr Kräuter, Blumen, Obst und Gemüse anbauen können.
Nur für Schwindelfreie: Um den Dachgarten verteilen sich Plattformen mit Blick in alle Himmelsrichtungen
© Patrick Slesiona
Damit das Gedenken Platz findet, ließ der Verein zehn Tafeln aufstellen, die zur Historie des Flakbunkers informieren. Weitere sollen folgen und eine Dauerausstellung im fünften Stock des unteren Teils. „Für mich wird sich erst in den nächsten Jahren herausstellen, wie gut die Balance zwischen kommerzieller Nutzung, öffentlicher Zugänglichkeit und der Auseinandersetzung mit der Geschichte gelingt“, sagt Anita Engels. Es muss sich einiges zurechtwachsen auf dem grünen Bunker. Der Natur dürfte das am leichtesten fallen.