Seit zehn Jahren auf dem Markt: „Wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Apple Watch Leben rettet“

In zehn Jahren wurde die Apple Watch zu einem der meistverkauften Gesundheitsgeräte. Im Gespräch mit dem stern verraten die Köpfe dahinter, warum sie das nicht erwartet hatten.

Seien Sie ehrlich: Würden Sie einen Pulsmesser oder ein Gerät zur Überwachung ihrer Atmung im Schlaf kaufen? Vermutlich nur, wenn Sie es müssten. Vielleicht besitzen Sie aber ein solches Gerät schon aus anderen Gründen: Die Apple Watch und andere Smartwatches haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr vom schicken Luxus-Gadget zum Gesundheitswerkzeug entwickelt. Und dürften damit zu den meistverkauften medizinischen Geräten überhaupt gehören.

Damit hat bei der Präsentation der Apple Watch vor zehn Jahren niemand gerechnet – auch nicht Apple selbst. „Als wir die Watch vorstellten, ging es anfangs wirklich um Fitness“, erklärt Jeff Williams im Gespräch mit dem stern. Er ist der operative Geschäftsführer des Konzerns und damit einer von Apples ranghöchsten Managern nach CEO Tim Cook. Die Apple Watch wurde demnach intern zunächst als smartes Fitnessgadget betrachtet. „Wie viel wir im Gesundheitsbereich bewegen können, wurde uns erst später bewusst.“

Apple Watch und Herz Vorhofflimmern etc

Apple Watch: Gesundheit im Nebensatz

Vielleicht hat das auch etwas Gutes. Wie andere Smartwatches ist die Apple Watch kein reines Fitness- oder gar Gesundheitsgerät. Sie kann zwar den Puls messen und den Schlaf überwachen – das dürfte aber für die wenigsten Kunden der alleinige Kaufgrund sein.

„Wenn Sie jemandem ein Gerät verkaufen wollen, das nur ihre Herzfrequenz überwacht, werden Sie vermutlich zwölf davon verkaufen“, ist auch Williams überzeugt. Doch wenn es nebenbei geschehe, sei das etwas anderes.

Schließlich gibt es genug Gründe, eine Smartwatch zu tragen: Man kann bequem am Handgelenk bezahlen, trackt seine Workouts und bekommt Chat-Benachrichtigungen, Termine oder Anrufe unauffällig mit. Und man kann im Zweifel auch mal das Handy zu Hause lassen. Die Gesundheitsfunktionen werden so eher nebenbei genutzt – und haben dadurch eine umso breitere Wirkung.

Denn während man Gesundheitsgeräte in der Regel ausschließlich trägt, wenn man bereits eine Krankheitsdiagnose erhalten hat, haben seit dem Boom von Fitnessmessern und Smartwatches auch vermeintlich Gesunde ein Auge auf ihre Werte – und entdecken plötzlich, dass diese nicht in Ordnung sind.

Überraschender Retter

Auch die Fitnessprofis des Konzerns wurden davon überrascht. „Als wir mit den Hintergrundmessungen des Pulses begannen, dachten viele von uns im Fitnessbereich, dass das weniger spannend sein wird“, gesteht auch Jay Blahnik. Er war schon als Trainer, Autor und Entwickler von Trainingsplänen bekannt, bevor er zu Apple stieß. Heute leitet er als Vizepräsident die Fitnesssparte des Konzerns.  „Eine ewige Serie von Messungen mit 50, 60 Schlägen die Minute“ – mehr sei bei Hintergrundmessungen ja kaum zu erwarten gewesen, erinnert er sich.

„Womit wir nicht gerechnet hatten, waren Menschen, die berichteten, die Apple Watch hätte ihnen das Leben gerettet“, berichtet Williams aus der Anfangszeit. Menschen hätten aus Neugier ihren Puls geprüft – und plötzlich bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Mittlerweile passiert das quasi täglich: Die Apple Watch warnt, wenn die Herzfrequenz zu hoch oder zu niedrig ist, meldet Vorhofflimmern und eine zu geringe Sauerstoffsättigung. Erfahrungsberichte von Betroffenen und die Einschätzung eines Herzmediziners finden Sie hier.

Möglich ist das, weil Apple im Laufe der Jahre die Gesundheitsfunktionen immer weiter ausgebaut hat. Mit der Apple Watch Series 4 kam ein EKG hinzu, seit der Series 6 kann die Uhr auch den Blutsauerstoffgehalt messen. Und mit dem neuen Betriebssystem WatchOS 11 erkennt sie sogar eine Schlafapnoe, also krankhafte Atemaussetzer während der Nachtruhe.

Bei der Vorstellung der Apple Watch 2014 war das alles noch kein Thema. „Am Anfang gab es an Gesundheitssensoren nur den Pulsmesser“, erinnert sich Williams. „Und selbst der hatte einen anderen Hintergrund: Wir brauchten ihn, um die Kalorienanzahl genauer zu berechnen“, berichtet Williams. „Hätten Sie mir vor zehn Jahren gesagt, dass wir Funktionen ausrollen würden, die von Gesundheitsbehörden auf der ganzen Welt zugelassen werden, hätte ich gesagt, Sie sind verrückt.“

Gesundheitsspagat

Die Erkennung von Schlafapnoe ist unter diesen Funktionen eine der neuesten. Statt auf neue Sensoren zu setzen, gelang es den Gesundheitsforschern, die Atemaussetzer nur mit vorhandenen Mitteln zu erkennen. „Im Falle der Schlafapnoe haben wir uns jede Sensoreingabe angesehen, die uns Informationen über Apnoe geben könnte“, erklärt Dr. Sumbul Desai. Die Ärztin und etablierte Gesundheitsforscherin der Elite-Uni Stanford leitet seit 2017 Apples Gesundheitssparte.

„Dabei stellten wir fest, dass der Beschleunigungsmesser nicht nur eine Schätzung der Atemfrequenz und der Schlafphasen liefert, sondern unser Beschleunigungsmesser empfindlich genug ist, um aus diesen winzigen Bewegungen während des Schlafes auch Atemstörungen aufzuzeichnen.“ Verwendet man eine Apple Watch aus diesem oder dem vergangenen Jahr, muss man sie innerhalb von 30 Tagen zehn Nächte lang tragen – und erhält automatisch eine Warnung, wenn Schlafapnoe erkannt wird.

Mit der Warnung können Sie letztlich zum Arzt gehen, können handeln“, bekräftigt Desai. Dieser Aspekt ist der Ärztin wichtig: „Wir wollen Ihnen nicht nur Informationen um ihrer selbst willen geben, wir wollen, dass sie handlungsrelevant sind.“

Andererseits wolle man Kunden aber nicht verunsichern – und mit falschen Warnungen aufwühlen. „In der Praxis ist das immer ein Spagat. Manchmal nehmen wir etwa einen Einbruch bei der Empfindlichkeit hin, um Fehlwarnungen zu vermeiden“, erläutert Desai. „Dann decken wir vielleicht eine kleinere Gruppe von Nutzern ab, aber die können sicher sein, dass sie wirklich mit einem Experten sprechen sollten. Sonst verlieren die Warnungen auch an Gewicht.“

Die Magie der Ringe

Die größte Auswirkung auf die Träger der Apple Watch dürfte aber eine Funktion haben, die von Anfang an dabei ist: Die Ringe, die signalisieren, ob man seine Ziele für Bewegungskalorien, Trainingsminuten und ausreichendes Stehen über den Tag erreicht hat.

Die Idee dazu hatte Blahnik – auch wenn er das nicht von sich aus erzählt. „Jay ist in dieser Hinsicht sehr bescheiden“, betont Desai mit einer während des ganzen Gespräches spürbaren Wertschätzung, die beide füreinander haben. „Es gibt eine starke Verhaltenskomponente“, erklärt sie die Magie der Ringe. „Sie sind nicht aufdringlich, nicht übertrieben spielerisch. Es ist gerade genug, um die Leute immer wieder ein kleines bisschen mehr zu motivieren. Ganz egal, was für ein Persönlichkeitstyp man ist.“

„Die Bewegungsringe zeigen einem ganz einfach: Ich habe mich weniger bewegt, als ich wollte“, führt Blahnik die Idee aus. Dabei spiele keine Rolle, ob man schon Sportler sei, oder sich einfach mehr bewegen wolle. „Wir wollen den Menschen helfen, aktiver zu werden. Sie dort abholen, wo sie sind, statt ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen. Und hoffen, dass sie dieses Jahr ein bisschen mehr tun als letztes Jahr.“