Der Rücktritt von Kevin Kühnert als SPD-Generalsekretär überrumpelt die Genossen, die schon jetzt hochnervös auf die kommenden Wochen blicken. Was folgt daraus?
Dann geht alles ganz schnell. Als Lars Klingbeil und Saskia Esken am Montagnachmittag das Atrium des Willy-Brandt-Hauses betreten, liegt die Schocknachricht nur etwas mehr als eine Stunde zurück. Die SPD-Parteivorsitzenden wirken angefasst. Sie haben Sprechzettel dabei, an denen sie sich festhalten. Ihr Statement in der Berliner Parteizentrale dauert keine fünf Minuten, Fragen sind nicht erlaubt. Dann geht’s wieder an die Arbeit. Es gibt viel zu besprechen.
Kevin Kühnert, 35, tritt als SPD-Generalsekretär zurück. Bei der nächsten Bundestagswahl will er nicht erneut kandidieren. So steht es in einem persönlichen Brief Kühnerts an Parteimitglieder, Freundinnen und Freunde, der um 13.37 Uhr überraschend die E-Mail-Postfächer erreicht. „Wir sehen uns!“, gezeichnet: Kevin.
Es ist das vorläufige und abrupte Ende einer steilen Politkarriere. Ein Schock für die Sozialdemokraten allemal. Wie geht’s jetzt weiter? Was bedeutet das für die ohnehin schon angezählte Partei, die auf 15 bis 17 Umfrageprozent geschrumpft ist? Und was für den bevorstehenden Bundestagswahlkampf?
Kevin Kühnert, unser Freund
An diesem Montag ist vieles ungewiss, die SPD-Vorsitzenden Klingbeil und Esken – die seit wenigen Tagen eingeweiht waren – sind entsprechend kurz angebunden.
„Wir wissen, wie fordernd das politische Geschäft ist, wie anstrengend es ist“, sagt Klingbeil mit wackliger Stimme in die Fernsehmikrofone. „Politik ist nicht alles.“ Seine Co-Chefin Esken habe die Entscheidung „mit Bestürzung“ und größtem Respekt entgegengenommen.
Ihr Weg an die Parteispitze, sagt Esken noch, so wie ihre Arbeit in dieser Position sei von einer „sehr, sehr engen und sehr vertrauensvollen“ Zusammenarbeit mit Kühnert geprägt gewesen. Klingt nach Stanze, ist aber Tatsache: 2019 wurde sie mit tatkräftiger Unterstützung der Jusos, deren Vorsitzender Kühnert seinerzeit war, überraschend an die erste SPD-Doppelspitze gewählt. Nun wünsche sie ihm die „notwendige Ruhe“, damit er wieder gesund werde. Beide SPD-Vorsitzenden sprechen von Kühnert als ihrem Freund.
Viele Genossinnen und Genossen sind von Kühnerts Rücktritt überrumpelt worden, selbst der vielköpfige Parteivorstand soll erst kurz vor Versand des Briefes informiert worden sein. Kühnert zieht sich nach eigenen Angaben aus gesundheitlichen Gründen zurück, nach stern-Informationen sind es mentale gesundheitliche Gründe.
„Die Energie, die für mein Amt und einen Wahlkampf nötig ist, brauche ich auf absehbare Zeit, um wieder gesund zu werden“, schreibt Kühnert. Er trage Verantwortung für sich selbst und für die SPD. „Indem ich mich jetzt ganz um meine Gesundheit kümmere, glaube ich, meiner doppelten Verantwortung am besten gerecht zu werden.“
In der SPD ist von einem Verlust die Rede, einer Lücke, die Kühnert reißen werde, schließlich sei er einer der klügsten Köpfe im Parteiapparat. Selbst Kritiker bekunden ihm Respekt, können sich einen Seitenhieb aber nicht verkneifen: Er mag zwar ein rhetorisches Talent sein, aber als Wahlkampfmanager habe er sich nicht gerade hervorgetan.
Erste Zweifel am Überflieger
Nach der historischen Niederlage bei der Europawahl, seiner ersten bundesweiten Kampagne als Generalsekretär, wurde insbesondere Kühnert für das Debakel verantwortlich gemacht. Der groß plakatierte Kanzler zog nicht, sein Friedenswahlkampf verpuffte. Mehr als zwei Millionen sozialdemokratische Wähler wanderten ins Nichtwählerlager ab, weitere Hunderttausende zu den Populisten von links und rechts. Kühnert hatte sich im Eifer des Gefechts teils unangenehme Pannen geleistet.
In der Debatte um die ausländerfeindlichen Sylt-Parolen veröffentlichte die SPD ein Posting: „Deutschland den Deutschen“, war darauf in großen Lettern zu lesen, „die unsere Demokratie verteidigen“, stand in wesentlich kleinerer Schrift darunter. Sehr unglücklich. Der Beitrag verschwand, der Imageschaden blieb. Kühnert, so geht die Erzählung in der Partei, habe das Posting persönlich abgesegnet. Im Präsidium soll er sich darüber kurz vor der Wahl zerknirscht gezeigt haben.
Ob er der Richtige ist, um einen Bundestagswahlkampf zu managen? Das Ruder wieder rumzureißen, die richtigen Akzente zur richtigen Zeit zu setzen? Diese Frage waberte auch nach den eher mauen Ergebnissen bei den Landtagswahlen in Ostdeutschland über die Flure der Hauptstadt.
Dass sich aber so viele Augen auf Kühnert gerichtet haben, teils mit Enttäuschung, liegt auch an den hohen Erwartungen, die auf ihn projiziert wurden. Klare Rhetorik ist das eine, Organisation das andere – und in diesem Job vielleicht das wesentlich wichtigere. Als Juso-Chef scheute Kühnert keinen Konflikt, spitzte zu, prangerte an – damit trieb er die Große Koalition vor sich her, nicht zuletzt die eigene Partei. Passt perfekt auf das Profil eines Generalsekretärs. Eigentlich. Doch als er 2021 ins Amt gewählt wurde, musste Kühnert rhetorisch abrüsten, plötzlich den Kurs der Kanzlerpartei verteidigen – politische Schwerstarbeit für einen, der stets auf Angriff gespielt hatte.
Mit seinem Rücktritt als Generalsekretär kommt nun zusätzliche Unruhe in eine Partei, die orientierungslos und hochnervös wirkt und in der sich die Sorge breit macht, bei der nächsten Bundestagswahl pulverisiert zu werden. Denn es sieht schon lange nicht mehr gut aus für die SPD. So wenig, dass es mindestens ein zweites Wunder bräuchte, um Olaf Scholz als Kanzler zu retten. Zum Wochenende noch hatte Kühnert im „Spiegel“-Interview gefordert: „Jeder von uns muss und wird in dieser Kampagne über sich hinauswachsen, auch der Bundeskanzler.“
Das bleibt weiterhin richtig. Nur vermutlich war Kühnert da längst schon über sich hinausgewachsen. Mehr als es seiner Gesundheit gutgetan hätte.
Einen Rücktritt hatte er selbst in besagtem Interview noch ausgeschlossen, jedenfalls aus politischen Gründen. Warum die SPD-Führung nicht dem Vorbild der Grünen folge und den Weg für Neuanfang freimache, wurde Kühnert da gefragt. Antwort: „Aus einem offensichtlichen Grund: Die Arbeit der SPD in der Koalition wird deutlich besser bewertet als die unserer Koalitionspartner. Das heißt ganz und gar nicht, dass alles gut ist. Aber wir haben die meisten unserer Wahlversprechen umgesetzt, arbeiten verlässlich und kompromissorientiert“, sagte Kühnert. Außerdem sei man nach innen weiterhin ein eingespieltes Team, das an einem Strang zieht und gemeinsame Entscheidungen trifft.
Und nun?
Nun ist Kühnert erstmal krankgeschrieben, die ersten Termine wurden schon abgesagt, zum Beispiel sein Auftritt beim Zukunftskongress der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung am Dienstag. Die Blicke dürften sich dann ohnehin wieder aufs Willy-Brandt-Haus richten.
Noch an diesem Montagabend kommt zunächst das Präsidium, dann der Parteivorstand zu einer Sitzung zusammen. Der Vorstand wird einen Vorschlag für Kühnerts Nachfolge als Generalsekretär oder Generalsekretärin machen, der dann am Dienstagmittag auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben werden soll.
Das wäre eine rasche Lösung, aber wahrscheinlich zunächst eine kommissarische: Dem Vernehmen nach wird Kühnerts Nachfolge wahrscheinlich aus dem Parteivorstand rekrutiert, um diese schnell einsetzen zu können. Andernfalls wäre ein Parteitag nötig, der die Entscheidung absegnen müsste.
STERN PAID 18_24 Kevin Kühnert IV 0.01
Der nächste reguläre Bundesparteitag der SPD, auf dem alle Ämter gewählt werden, findet erst im Dezember 2025 statt. Und bis zum Sonderparteitag im Sommer kurz vor der Bundestagswahl, auf dem Scholz offiziell zum Kanzlerkandidaten gekürt werden soll, gehen auch noch ein paar Monate ins Land. Dass die SPD einen außerordentlichen Parteitag für die Wahl eines neuen Generalsekretärs einberuft, ist unwahrscheinlich.
Vor der SPD stehen turbulente Wochen und Monate, so oder so. Haushalt, Rente, Tariftreue – überall drohen neue Zerwürfnisse in der rauflustigen Ampel-Koalition. Einfacher wird’s für die geschafften Genossen also nicht.
Kevin Kühnert schreibt es in seinem Brief, vielen dürften seine bemerkenswert deutlichen Zeilen bei aller Aufregung um seinen Rückzug überlesen haben. „Die kommende Wahl ist offener, als viele das heute glauben wollen“, schreibt Kühnert. Die Chancen für die SPD ergäben sich dabei aber nicht aus Abwarten, sondern einzig und allein aus Anpacken. „In den nächsten Monaten müssen enorme Kraftanstrengungen unternommen werden, um einen Rückstand aufzuholen, der sich gleichermaßen in niedrigen Umfragewerten und niedrigem Selbstbewusstsein ausdrückt.“ Die Erwartungen an die SPD seien riesig.
Klartext, das kann der Kühnert. Nur seine Kraft ist erstmal aufgebraucht.