Kinderhilfswerk: Wie Yosef einen „Mutmacher“ fand, der an ihn glaubte

Der 17-jährige Yosef hatte einen schwierigen Start ins Leben und kaum Chancen. Das Kinderhilfswerk „Arche“ half ihm – mit Unterstützung der Stiftung stern

Endlich diese verdammten Dinger loswerden, endlich frei sein. Nichts wünscht sich Yosef sehnlicher. Dabei weiß er umzugehen mit den blauen Krücken, geschickt und behänd ist er auf ihnen unterwegs, und dezent kann er sie unterm Tisch verschwinden lassen. Über seine Gehhilfen reden mag er nicht. Und er hält sich auch nicht an den Rat der Ärzte, vorsichtig zu sein. Yosef spielt sogar Fußball auf den Krücken.

17 Operationen hat er hinter sich. Weil er noch wächst, muss der Oberschenkelknochen immer wieder gestreckt werden. Gerade ist Yosef abermals im Krankenhaus, es soll seine letzte OP sein. Dann endlich, so das Versprechen der Mediziner, soll er richtig laufen können. Wie ein ganz normaler, ein 17-jähriger Teenager.

PAID Kinderarmut Alleinerziehend, 10.26

Vor neun Jahren kam Yosef mit seinem Vater aus Eritrea. Dort hatten ihm die Ärzte mit dem Bein nicht mehr helfen können. Eine komplizierte Verletzung. Was passiert ist, damals in seiner Heimat, erzählt Yosef nicht, nur so viel: Die Ärzte vor Ort wussten nicht weiter. Also beschloss der Vater, den Sohn nach Deutschland zu bringen. Dort würde man Rat wissen, dort würde sich alles zum Guten wenden, glaubte er.

Die Mutter und sechs Geschwister blieben zurück, der Vater und der zu jener Zeit Achtjährige reisten allein. „Wir sind nicht wegen Krieg hier, sondern aus medizinischen Gründen. Jetzt fühlt es sich an wie Heimat, weil ich bin schon so lange hier“, sagt Yosef. Er spricht sanft, langsam, bedächtig. Sein Vater und er litten unter der Trennung. Vor bald zwei Jahren konnten die Geschwister und die Mutter endlich nachkommen, so lange dauerte es, bis sie alle Dokumente zusammenhatten. Nun lebt die Familie in Hamburg.

Im großen Spiel des Lebens hat Yosef ein paar denkbar miese Karten gezogen: die Migrationsgeschichte, die vielen Geschwister – alles Risikofaktoren für Bildungsarmut und materielle Not, für einen schlechten Start ins Leben. So wie Yosef sind davon Millionen Kinder in Deutschland betroffen.

Deutsch lernen im Krankenhaus

Während der Zeit allein mit seinem Vater in Deutschland musste Yosef die neue Sprache lernen, Freunde finden. Ständig fehlte er in der Schule, weil er wieder und wieder operiert wurde. „Deutsch habe ich im Krankenhaus gelernt, von den Krankenschwestern“, sagt er. Halt und Struktur fand Yosef vor allem bei der „Arche“. Von dem Kinder- undJugendhilfswerk hatte er gehört und ging hin, hier bekam er nach der Schule ein warmes Mittagessen, Hilfe bei den Hausaufgaben. Trotzdem beobachtete das „Arche“-Team, wie dem Jungen alles zu viel wurde, die Operationen, die Sorge um die Familie, die Fremde. Auf den schmalen Schultern dieses vorsichtigen Jungen lastet viel Verantwortung. Weil er in seiner Familie am besten Deutsch spricht, muss Yosef bei Behördengängen und den vielen Anträgen dolmetschen.

Nebensache, wer mehr Push-ups schafft. Pädagoge Jarstorff (hinten) will Yosef für Schule, Job und überhaupt für das Leben stärken. Sie treffen sich regelmäßig durch das Kinderhilfswerk
© Patrick Slesiona/Stern

Was Yosef brauchte, so fanden sie bei der „Arche“, war eine Art Lotse, ein Begleiter, jemand, der ihm half – ein „Mutmacher“, wie sie das in der „Arche“ nennen. Vor drei Jahren stellten sie deshalb Samuel Jarstorff an seine Seite. Jarstorff, 33, Lehrer für Deutsch und Religion, ist als Pädagoge bei der „Arche“ angestellt. Er kennt die ganze Geschichte von Yosef und seiner Familie, respektiert aber auch Yosefs ausgeprägtes Gefühl für Würde und seine „Alles kein Problem“-Attitüde. Schau nach vorn, nie nach hinten!

„Samuel ist wie ein Onkel für mich“, sagt Yosef, und daraus spricht tiefes Vertrauen und Respekt. „Mit ihm kann ich über ganz viel reden, auch über schwierige, peinliche Sachen. Wenn ich Streit in der Schule habe wegen Beleidigungen oder wenn mich Lehrer ungerecht behandeln“, erzählt Yosef. „Samuel ist jemand, der mich beschützt und mir hilft, das Richtige zu machen.“

Das Richtige für Yosef: Sie treffen sich regelmäßig im Jugendhaus in der Görlitzer Straße. Samuel hört zu, zockt auch mal mit Yosef „Fifa“, auch wenn der viel besser ist. Und wenn es was zu feiern gibt, eine gute Note oder eine erfolgreiche Bewerbung fürs Praktikum, gehen sie Döner essen oder Burger. „Basis für unsere Arbeit ist Vertrauen, das muss wachsen. In den behördlichen Strukturen der Schule ist so eine Partnerschaft zwischen Schüler und Lehrer häufig nicht möglich“, sagt Jarstorff. Er spricht mit der Schule, den Eltern und bei Bedarf auch mit dem Jugendamt.

Das „Mutmacher“-Projekt

Entstanden ist das „Mutmacher“-Projekt mit Unterstützung des stern und der Stiftung stern. Seit vielen Jahren berichtet die Redaktion immer wieder über das Engagement des Gründers Bernd Siggelkow und sammelt Geld für „Die Arche“, die sich nahezu allein über Spenden finanziert. Längst ist sie eine Institution in Deutschland – und ein Gradmesser für die Not von Heranwachsenden. Wird es schlimmer, merken sie es hier zuerst.

In Deutschland wächst jedes fünfte Kind in Armut auf oder ist davon bedroht, rund drei Millionen Mädchen und Jungen. Bundesweit gibt es inzwischen mehr als 30 Standorte der „Arche“, im reichen Hamburg allein drei. Im Sommer wurde in Bremerhaven ein weiteres Haus eröffnet.

Im Jugendhaus des Kinderhilfswerks „Arche“ bleibt Raum zum Reden, Lernen und Labern, hier hängen viele der Jugendlichen gern ab
© Carolin Windel

In Hamburg-Jenfeld, wo Yosef in den vergangenen Jahren aufwuchs, stehen die Jugendlichen vor vielen Herausforderungen: sechs oder mehr Personen, die in zwei Zimmern leben, sind hier keine Seltenheit. Dazu Mütter und Väter, die oft selbst stark belastet sind. Armut, Gewalt, Drogen- undAlkoholmissbrauch. „Auch diese Eltern wollen das Beste für ihr Kind, können es aber oft nicht ausreichend unterstützen, weil sie nicht gut genug Deutsch können, gar Analphabeten sind oder weil das Geld für Nachhilfe, den Sportverein, Musik oder Ausflüge fehlt“, sagt Tobias Lucht, Leiter der Hamburger „Archen“. „Diese Kinder können wir doch nicht im Stich lassen!“

In den sozialen Medien sehen die Jugendlichen das schöne, das reiche Leben, das sie nicht haben. Viele fühlen sich dadurch zusätzlich abgehängt und ausgeschlossen. „In Stadtteilen wie Jenfeld ist die Gefahr groß, dass Jugendliche durch falsche Freunde in die Kriminalität abrutschen. Da lockt das schnelle Geld“, sagt Lucht. Die Mitarbeiter der „Arche“ schauen mit Sorge auf eine zunehmende Radikalisierung: „Vor allem auf junge Männer, die keinen Zugang zur deutschen Gesellschaft finden, wirkt der Islamismus attraktiv“, so Lucht.

Der Vater von Yosef hat mittlerweile eine Arbeitserlaubnis, lernt Deutsch wie die Mutter ebenfalls, die kleinen Schwestern gehen zur Schule.

PAID Kinderarmut Straßenkinder 13.55

Die Unterstützung des Kinderhilfswerks hilft Yosef in der Schule

Die Familie, das Bein – lange Zeit war alles wichtiger für Yosef als Schule. Jetzt kann er sich auf den Unterricht konzentrieren und lernen, weil Samuel Jarstorff ihn unterstützt. Seine Eltern hätten ihm dabei wenig helfen können, auch das ist symptomatisch: In kaum einem Land hängt der Schulerfolg so sehr vom Elternhaus ab wie in Deutschland. Das deutsche Bildungssystem schafft es einfach nicht, Nachteile auszugleichen und gerechte Chancen für alle Kinder zu ermöglichen. Das zeigen Studien wie die Pisa-Untersuchung. Die, die zuletzt erschien, stellte Deutschland ein besonders schlechtes Zeugnis aus. Vor allem Kinder aus den besagten Risikogruppen können nicht ausreichend lesen und rechnen, hieß es da.

„Wir kennen viele engagierte Lehrer, aber das System ist insgesamt überfordert“, sagt „Arche“-Leiter Lucht. „Viele Kinder kommen ohne Frühstück in die Schule, können sich daher im Unterricht nicht konzentrieren, stören, werden abgehängt.“ Laut einer Allensbach-Umfrage glauben 90 Prozent der Deutschen, dass ein gutes Bildungssystem für die Demokratie von immenser Bedeutung ist. 80 Prozent sagen, dass die Politik sich nicht ausreichend um Bildungsfragen kümmert. Auch Lucht fordert mehr Einsatz vom Staat: „In unseren Stadtteilen werden Stellen für Sozialarbeit von der Stadt nicht besetzt. Die Etats für diese Bereiche werden nicht aufgestockt. Nein, die Politik tut viel zu wenig, das hat doch auch die Debatte um die Kindergrundsicherung gezeigt.“

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Ja, die Kindergrundsicherung. Als große Sozialreform von der Ampel angekündigt, dann immer kleiner zusammengeschrumpft in einem monatelangen, öffentlichen Streit über die Finanzierung, bei der Finanzminister Christian Lindner (FDP) seine Kabinettskollegin Lisa Paus (Grüne) herunterhandelte: Von den ursprünglich geforderten zwölf Milliarden Euro blieben am Ende 2,4 Milliarden Euro.

Dabei hatte Ministerin Paus mehr Entlastung und mehr Geld versprochen. Im stern erklärte sie im Sommer 2023: „Die Kindergrundsicherung wird ab 2025 das Leben vieler Familien leichter machen. Wir holen damit Kinder aus der Armut.“ Für alle sollte es einen Garantiebetrag geben (bisher Kindergeld), außerdem einen Zusatzbetrag, gestaffelt nach der Höhe des Einkommens der Eltern. Geplant war die Einführung der Kindergrundsicherung für Januar 2025. Doch in dieser Legislaturperiode wird wohl nichts mehr passieren.

Guter Ort in nicht so gutem Viertel: die „Arche“ in Hamburg-Jenfeld
© Carolin Windel

Stattdessen bleibt der Kindersofortzuschlag, 2022 eingeführt als Zwischenlösung für Eltern, die Sozialleistungen erhalten, und wird auf 25 Euro pro Monat erhöht. Auch das Kindergeld steigt um fünf Euro. Das feiert nur die Koalition als große soziale Verbesserung – 84 Prozent aller Eltern halten die Maßnahmen für läppisch, so das Ergebnis einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Kinderschutzorganisation Save the Children. Den Deutschen also, den Eltern zumal, ist völlig klar, wie ungerecht dieses Land ist. Und dass diese Ungerechtigkeit zum Schaden aller ist. Warum also setzt die Politik diesen klaren Wählerwillen nicht in die Praxis um?

Mehr Geld wäre gut angelegt. Ein neues Gutachten des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigt, dass Investitionen in Bildung sich nicht nur für jeden Einzelnen langfristig auszahlen, sondern auch für den Staat, durch höhere Steuereinnahmen. Weil Jugendliche, die einen Schulabschluss schaffen, anschließend ein Studium oder eine Ausbildung‚absolvieren, bessere Jobs bekommen, mehr verdienen, gesünder leben und seltener kriminell werden. Die Gesellschaft wird es sich in Zukunft nicht mehr leisten können, auf Talente zu verzichten, wenn die Babyboomer in Rente gehen und Stellen nicht besetzt werden können. „Es ist doch absurd, dass wir darüber diskutieren, Fachkräfte aus dem Ausland zu holen, statt die vernünftig auszubilden, die schon hier sind“, sagt „Arche“-Leiter Lucht.STERN PAID 19_23 FDP Kindergrundsicherung Kinderarmut 16.33

700 Jugendliche wurden durch „Mutmacher“ unterstützt

Jeder Euro, der in das „Mutmacher“-Programm investiert wird, bringt mindestens 20 Euro sozialen Nutzen – zeigt eine Analyse der Boston Consulting Group. Bei der komplexen Berechnung der sogenannten sozialen Rendite werden Wirkungen in den Bereichen Bildung, Engagement, Gesundheit und Prävention von Gefängnisstrafen mit Investitionen gegengerechnet. 700 Jugendliche sind bei der „Arche“ in den vergangenen zehn Jahren durch Mutmacher unterstützt worden. Jedes Jahr schaffen mindestens 50 ihren Schulabschluss und finden eine berufliche Perspektive. Viele Teilnehmer engagieren sich später wiederum für andere. „Wir haben jetzt die ersten Azubis in unserem Team, die früher bei uns als Kinder in der „Arche“ waren“, sagt Lucht stolz.

Dass solche Projekte eine enorme Wirkung entfalten können, zeigt auch eine Studie über das Mentoring-Projekt „Rock Your Life“, eines der größten in ganz Deutschland. Dabei begleitet ein Student oder eine Studentin ehrenamtlich Hauptschüler der 8. und 9. Klasse. Ziel ist, die Jugendlichen beim Start in den Job zu unterstützen. Die Forscher vom Ifo Institut zeigten, dass sich benachteiligte Mädchen und Jungen so signifikant verbessern: bei den Mathenoten, außerdem wachsen Geduld und Sozialkompetenzen sowie die Motivation, sich einen Ausbildungsplatz zu suchen. Jugendliche, die im Ausland geboren sind, finden sich leichter auf dem deutschen Arbeitsmarkt zurecht. Fazit der Experten: „Für die stark benachteiligten Jugendlichen übersteigen die zu erwartenden Einkommenserträge die Kosten des Programms um ein Vielfaches.“Stern Stiftung

Es lohnt sich also, und es müsste noch mehr davon geben. Die „Arche“ will ihr Programm ausweiten. Denn der Anteil der 25- bis 34-Jährigen ohne Abitur oder Berufsausbildung ist seit 2016 auf 16 Prozent gestiegen. Damit liegt Deutschland nach OECD-Angaben über dem Schnitt aller Industrienationen. Besonders jungen Männern fehlt oft eine Berufsperspektive. „Ich habe niemals über meine Zukunft nachgedacht. Ich glaube, viele Jugendliche brauchen einen Mutmacher, so wie ich“, sagt Yosef. Mit Jarstorffs Hilfe hat er nicht nur in Mathe aufgeholt, sondern auch gelernt, wie wichtig Zuverlässigkeit ist. Wenn er mal bei einem ihrer Treffen nicht kann, sagt er jetzt rechtzeitig ab. Na ja, meistens. Denn sonst kann der verständnisvolle Jarstorff sauer werden. „Er schimpft dann nicht, aber er ist enttäuscht von mir. Das ist viel schlimmer.“

Und Yosef, der schmiedet Pläne. Nächstes Jahr will er den Hauptschulabschluss schaffen und dann eine Ausbildung im Kfz-Bereich beginnen. Aber vor allem will er endlich ohne Krücken Fußball spielen.