Ihre Beziehung mit Henning endet plötzlich wegen eines Abends, an dem es Daliya M. nicht gut geht. Er zeigt kein Verständnis. Was nun?
Liebe Frau Peirano,
ich bin Kurdin, 32, und in Deutschland aufgewachsen. Ich date seit einigen Jahren und habe vor vier Wochen Henning kennengelernt. Wir haben uns gleich sehr gut verstanden, er war sehr aufmerksam und freundlich, hat ständig geschrieben und wollte mich auch alle paar Tage sehen.
Wir hatten auch Sex und waren ein Wochenende zusammen an der Nordsee. Das war sehr schön. Ich war nach dem Wochenende etwas müde und wollte mich ausruhen. Er ging zum Sport und wollte danach wieder kommen und bei mir übernachten. Während er weg war, habe ich eine Nachricht von einer Cousine erhalten, die mir erzählte, dass meine 15-jährige Lieblingscousine weggelaufen ist, weil sie zwangsverheiratet werden sollte. Ihre Brüder suchen nach ihr, und ich habe mir große Sorgen um sie gemacht, was ihr passiert, wenn sie gefunden wird. Ihr Vater ist sehr streng und auch gewalttätig.
Aus Henning zurückkam, war ich in einer völlig anderen Welt, und er fragte, was los sei. Ich antwortete, ich würde gerne alleine sein, weil ich eine schlimme Nachricht von meiner Cousine erhalten hätte. Er meinte: „Aber wir wollten uns doch einen schönen Abend machen. Ich bin extra wiedergekommen, um bei dir zu übernachten.“ Dann zog er mich an sich und meinte: „Das wird sich bestimmt klären, das wird doch bei euch alles heißer gekocht als gegessen.“ Und ich solle „kein Drama“ daraus machen und mich beruhigen. Er wollte dann duschen gehen.
Ich war total sprachlos und schockiert. Wie konnte ich mich so in ihm geirrt haben? Er war total egoistisch und nur auf seine Übernachtung (und Sex) mit mir aus, und die echten Probleme meiner Familie waren plötzlich „bei euch“? Das klang für mich auch rassistisch.
Ich habe zu ihm gesagt, dass es besser ist, wenn er jetzt gehen würde. Ich wollte allein sein, mit meiner Familie telefonieren und auch in Ruhe weinen. Ich war völlig überfordert. Er meinte nur bissig „na gut“ und ging, zog die Tür ziemlich laut hinter sich zu und das war’s. Ich habe drei Tage später gefragt, wie es ihm ginge, obwohl ich eigentlich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Er hat nur kurz geantwortet: „Alles ok, habe keine Zeit.“
Das war es. Der Vorfall ist jetzt vier Wochen her, und ich merke, dass ich immer noch geschockt bin, dass jemand so mit mir und meiner Familie umgeht. Ich habe überhaupt keinen Mut, einen neuen Mann kennenzulernen, und ich verstehe überhaupt nicht, was in einem Menschen vorgeht, der sich so verhält.
Jetzt hat mir eine Freundin gesagt, dass ich noch einmal nachhaken soll, aber ich habe auch meinen Stolz. Was meinen Sie? Wie kann ich das am besten verarbeiten?
Herzliche Grüße
Daliya M.
Liebe Daliya M.,
ich kann Ihre Verletzung und Ihren Schock gut nachfühlen! Sie haben sich gegenüber Henning geöffnet, weil er so verständnisvoll und freundlich mit Ihnen umgegangen ist, und Sie haben alles mit ihm gemacht, was man in der ersten Phase einer Beziehung tut, wenn man sich vertraut: sich geschrieben, sich ausgetauscht, Sie sind sich körperlich nahegekommen und haben viel Zeit zusammen verbracht.
Nach einer schönen Reise zu zweit erhalten Sie plötzlich eine wirklich schlechte Nachricht von Ihrer Familie. Es ist völlig verständlich und berechtigt, dass Sie sich Sorgen um Ihre junge Cousine machen, die vor einer Zwangsheirat geflohen ist. Der mögliche Ausgang dieser Geschichte klingt in der Tat sehr alarmierend. Sie hat einen gewalttätigen Vater und mehrere Brüder, die nach ihr suchen. Es hört sich so an, als wenn man sich auch um das Überleben Ihrer Cousine Sorgen machen muss – und auf jeden Fall um ihre körperliche und seelische Unversehrtheit.
Niemand trägt die Schuld an den Schicksalsschlägen oder Dramen, die sich im eigenen familiären Umfeld abspielen, auf jeden Fall, wenn man nicht der Verursacher dieser Dramen ist. Doch dann kommt Henning zu Ihnen und stellt es so dar, als hätten Sie diese Geschichte unnötig dramatisiert. Ihm fehlt da jegliches Mitgefühl. Und ich kann aufgrund der Schilderung auch verstehen, warum Sie es als ausgrenzend oder rassistisch empfinden, was er gesagt hat. Plötzlich gibt es nicht mehr ein „wir“ (also Daliya und Henning), sondern es gibt ein „wir“ (Deutschen) und „ihr“ (Kurden).
Mit dieser Grenzziehung hat er sich gegen Sie und Ihre Familie gestellt und sich angemaßt, darüber zu urteilen, wie es auf der anderen Seite (bei den Kurden) zugeht: viel zu dramatisch für seinen Geschmack. Und letztendlich reißt er auch das Expertenwissen über kurdische Familien an sich, dass alles „heißer gekocht als gegessen“ werde und Sie sich einfach beruhigen sollen. Das ist verachtend und verleugnend gegenüber den realen Gefahren, die Sie als Mitglied dieser Familie definitiv besser einschätzen können als er.
Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich in dem Moment mutterseelenallein gefühlt haben und infolgedessen auch eine Grenze ihm gegenüber gezogen haben, indem Sie den Drang fühlten, allein zu sein und sich mit Ihrer Familie auszutauschen oder Ihre Gefühle zu ordnen.
Beziehung am Ende – aber warum?
Allerdings kann ich mir auch vorstellen, dass Henning an dem besagten Abend in einem völlig anderen Film war als Sie. Für ihn war alles normal, er war beim Sport und wollte mit Ihnen da anknüpfen, wo Sie aufgehört hatten. Er hat nicht umschalten können, warum auch immer, als er gemerkt hat, dass für Sie ein Schicksalsschlag passiert war. Es wäre interessant herauszufinden, was er da projiziert hat. Es ist gut möglich, dass seine Reaktion wenig mit Ihnen zu tun hat, sondern ein in der Kindheit erlerntes Muster ist. Vielleicht hat seine Mutter oder eine Exfreundin Stimmungsschwankungen gehabt oder ein Alkoholproblem, und er hat gelernt, das zu ignorieren oder eine Mauer hochzuziehen.
Für manche Menschen ist es eine rote Linie, wenn Sie sich unerwünscht fühlen oder rausgeworfen werden. Es kann sein, dass Henning nicht versteht, was in Ihnen vorgegangen ist und nur auf seine eigenen Verletzungen (sie wirft mich raus) reagiert hat. Seiner Reaktion nach zu urteilen, war er wütend und hat dann selbst eine Mauer hochgezogen.
Nun könnten Sie beide die Angelegenheit so auf sich beruhen lassen und sich nie wieder sehen und hören. Ich bin aber der gleichen Meinung wie Ihre Freundin und würde Ihnen raten, ein letztes persönliches Gespräch (nicht schriftlich oder am Telefon!) mit ihm zu suchen. Sagen Sie ihm, dass Sie gerne ein letztes Gespräch mit ihm führen würden, nur eine halbe Stunde auf einen Kaffee oder eine Runde im Park, um zu verstehen, was passiert ist und die Angelegenheit abzuschließen. Die Bitte um ein Gespräch hat nichts mit Ankriechen-Kommen oder Seinen-Stolz-Verlieren zu tun, sondern beabsichtigt das Gegenteil: Sie stellen Ihre Würde wieder her!
Stellen Sie sich vor, dass Sie eine 18-jährige Tochter hätten, der das Gleiche passiert und die danach so verletzt ist, dass Sie sich Männern gegenüber nicht mehr öffnen will. Wäre es nicht eine schöne Vorstellung, dass Sie als Mutter zusammen mit der verletzten Tochter zu dem Mann gingen und ihm ganz ruhig und klar sagen, dass es Ihnen nicht gefällt, wie er Ihre Tochter behandelt hat?
Sie würden damit Ihrer Tochter zeigen, dass man so etwas nicht einfach mit ihr machen kann und dass Sie ihr Leid sehen und ernst nehmen. Das wäre für das Selbstwertgefühl Ihrer Tochter die reinste Kur, wenn sie das spürt! Gleichzeitig würden Sie dem Mann (imaginärer Freund Ihrer Tochter/ in Ihrem Fall Henning) zeigen, dass Sie sich so ein Verhalten nicht einfach bieten lassen, sondern nachfragen, was bei ihm los war, dass er sich so verhalten hat.
Außerdem würden Sie Ihre eigenen Werte benennen (man sollte empathisch sein, wenn ein naher Mensch einen Schicksalsschlag erlebt, man sollte Hilfe anbieten und trösten, man sollte das nicht abwerten oder von oben herab erklären). Ich denke, dass es Ihnen viel Kraft oder „Empowerment“ geben würde, ihn noch einmal zu treffen und ihm souverän die Meinung zu sagen.
Stellen Sie sich hierzu vor, dass NICHT das verletzte Mädchen spricht (und weint oder vor lauter Verwirrung und Gefühlen den roten Faden verliert), sondern die gute innere Mutter. Das Mädchen hört nur zu und nährt sich in dem guten Gefühl, dass ihre Emotionen doch wichtig sind und gesehen werden (und zwar von ihrer inneren Mutter).
Ich kann das Argument, dass Sie Ihren Stolz verlieren, noch weiter entkräften: Hier geht es um ein einmaliges Abschlussgespräch zur Klärung, damit Sie diese furchtbare Szene einordnen und verarbeiten können. Es geht nicht darum, dass Sie darum betteln, diese Beziehung mit Henning fortzusetzen. Letzteres wäre in der Tat ein Desaster für Ihr Selbstwertgefühl.
Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen, oder probieren Sie es vielleicht aus, um hinterher zu entscheiden, ob es richtig war.
Falls Henning das Gespräch mit Ihnen verweigern sollte, haben Sie es wenigstens versucht. Und Sie könnten sich die Situation auch aus Sicht einer Mutter anschauen: Was würden Sie über den ehemaligen Freund Ihrer Tochter denken, der sie erst verletzt und dann ein klärendes Gespräch verweigert? Was glauben Sie, wie er nach einigen Jahren durchs Leben geht, wenn er so viel unaufgeräumtes hinter sich lässt – und was glauben Sie, wie Ihre Tochter durchs Leben geht, wenn Sie alles anspricht, was sie bewegt?
Herzliche Grüße und alles Gute für Sie und auch für Ihre Cousine
Julia Peirano