Deutschland verleiht US-Präsident Joe Biden seinen höchsten Orden. Die Feierstunde zeigt, wie sehr Deutsche vom anständigen Amerika träumen – und wie wenig Plan sie für die Zukunft haben.
Die amerikanische Präsidentschaftswahl findet erst am 5. November 2024 statt, aber sie ist längst entschieden. Zumindest zu diesem Zeitpunkt, Freitag, der 18. Oktober, kurz nach 11 Uhr vormittags, zumindest an diesem Ort, Schloss Bellevue, Spreeweg 1, 10557 Berlin, 1. Stock. Der Amtssitz des Bundespräsidenten ist kein „Swing State“, hier ist eines ganz klar: Joe Biden ist und bleibt der amerikanische Präsident der Herzen. Also, zumindest der deutschen Herzen.
Vorne im Raum steht nämlich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, und er ist extra für diesen Anlass in eine ihm nicht immer gegebene Haut geschlüpft, die eines besonders warmherzigen, gar witzigen Gastgebers. Es gebe ja viele Stereotypen über Deutsche, sagt Steinmeier auf Englisch. Dass sie so humorvoll seien etwa, so ausgelassen und voller Lebenslust. Aber ein Stereotyp, das stimme halt: „We are good at keeping records“, wir halten unsere Akten in Ordnung.
Und in eben diesen Akten haben Steinmeiers Leute ausgegraben, was für ein ausführliches Memo „ein guter deutscher Beamter“ vor sagenhaften 44 ½ Jahren über den ersten Deutschlandbesuch des noch sehr jungen US-Senators Joe Biden verfasst hat.
Und allein der Umstand, dass ein amerikanischer Senator damals freiwillig nach Deutschland kam (und immer wieder freiwillig zurückkehrte, etwa als Dauergast der Münchner Sicherheitskonferenz), das erscheint in diesem Moment schon bemerkenswert. Genauso wie Selbstverständlichkeiten, die der Bundespräsident nun ausspricht, die man aber trotzdem aussprechen muss in Tagen wie diesen: dass Biden ein Amerika verkörpere, welches an Freiheit, Demokratie, an den Rechtsstaat glaube und sogar an die Bedeutung von Partnern wie Deutschland.
Steinmeier zu Biden: „Thank you, Mr. President“
Aber Steinmeier hat noch viel mehr Liebe mitgebracht, er lobt den Menschen, der dem mächtigsten Militär der Welt vorstehe, der größten Volkswirtschaft des Planeten, vor allem als einen „sehr anständigen Menschen“. Er sagt: “Thank you, Mr. President, in the name of my country.“
Dann bekommt Biden endlich seinen Orden angeheftet, die „Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik“, Deutschlands höchste Auszeichnung – und beginnt zu sprechen, mit leiser belegter Stimme. Er macht den Witz, den er oft macht: dass er ja nur aussehe wie 40 Jahre, er sei jedoch viel älter. Und wie um dies zu unterstreichen, taucht er ab in eine kurze Geschichtsstunde, angefangen bei Helmut Schmidt, bis hin zu den Momenten, als sich „history and hope“ gereimt hätten, wie der Mann mit irischen Wurzeln einen irischen Dichter zitiert: etwa als die Berliner Mauer fiel, und Kiew nach dem russischen Angriff nicht fiel.
Dann ist die Zeremonie schon vorbei. Biden trägt seinen Orden stolz am Jackett, er stakst in den nächsten Raum, und ein Ehrengast sagt leise hinter ihm beim Rausgehen: „Ist doch besser, dass er aufhört.“ Der Mann daneben stimmt zu und sagt, wie froh er gewesen sei, dass Biden gleich ein Wasser gereicht wurde, als ihm die Stimme zu versagen drohte. Und dass er Angst gehabt habe, dass Biden das Glas vielleicht umkippt. Lachen, wie man halt seit Monaten über Alterswitze rund um Joe Biden lacht.
Wie Motten zieht es die Menschen plötzlich zu Joe Biden
Aber kurz darauf passiert im Nebenraum, wo nun ein kleiner Empfang stattfindet, etwas Erstaunliches. Max Weber hat ja einmal die unterschiedlichen Arten des Charismas definiert. Eines ist das Charisma per Ausstrahlung, die hat Biden im Alter etwas eingebüßt. Er wirkt nicht viel lebendiger, als man es von einem 81 Jahre alten Mann erwarten kann.
Aber es gibt eben auch noch das Charisma des Amtes. Zumindest für den Moment ist Biden immer noch der US-Präsident, er ist mit der „Air Force One“ eingeflogen, seine gepanzerte Präsidentenlimousine „The Beast“ brauste durch das völlig abgeriegelte Regierungsviertel – so abgeriegelt, dass selbst ein kleiner Trupp von VIP-Gästen für den Empfang steckenblieb und laufen musste, angeführt von einer resoluten Friede Springer und natürlich von Marie-Agnes Strack-Zimmermann, der Europapolitikerin und Verteidigungsexpertin der FDP.
Und so wird nun beim Empfang selbst Bundespräsident Steinmeier zum Statisten. Wie Motten zieht es die Menschen – und gerade die erfahrenen Netzwerker – in die Nähe des US-Präsidenten, Handykamera in der Regel im Anschlag. Eine Vorständin, die in Berlin auf keinem Selfie fehlen darf, arbeitet sich sehr gezielt in Richtung des Präsidenten. Ein Bundesverteidigungsminister tut dies ebenso, auch die Ministerpräsidentin eines ostdeutschen Bundeslandes, in dem eine Gas-Pipeline gen Russland den Amerikanern einst ein großes Ärgernis war. Eine deutsche Schauspielerin erklärt Biden stolz, welche Rolle sie in „Game of Thrones“ gespielt habe.
Die Suche nach dem richtigen Weg
Aber ausgestochen werden sie alle doch, von einer Frau, die mit ihren 102 Jahren selbst Joe Biden wie einen jungen Kavalier wirken lässt: Margot Friedländer, Ikone der „Nie Wieder“-Erinnerung in Deutschland. Biden nimmt die winzige Frau in den Arm, er küsst sie sogar sanft auf den Mund. Er ist und bleibt ein Menschenfänger, Alter hin oder her.
Bald wartet der nächste Termin, bei Bundeskanzler Olaf Scholz. Der hat Biden bis zum Schluss in den höchsten Tonen gelobt, er hat wiederum politisch Entgegenkommen von Biden erfahren. Wenn Olaf Scholz im Amt einen Freund hatte, hieß er vermutlich Joe Biden. Es dürfte ein emotionaler Abschied werden. Ob die beiden Männer auch darüber sprechen werden, was ab November sein könnte? Was mit einer Kamala Harris wäre, was mit einem, man mag den Namen in all dieser Harmonie des Tages kaum aussprechen, Donald Trump? Ob Deutschland wirklich die Biden-Jahre genutzt hat, um sich auf eine Welt ohne einen Deutschland-Fan im Weißen Haus vorzubereiten?
Die Gäste beim Empfang diskutieren eher über die anstehende Wahl. Es geht um Swing States, um Georgia, um die Tage danach, um die Frage, ob eine Rebellion in Amerika ausbrechen könne, wie ratlos sie alle seien. „Ich traue mir nicht zu, meinen Mitarbeitenden sicher etwas vorherzusagen“, sagt ein Mann. Ein ehemaliger deutscher Außenminister schreitet aus dem Schloss Bellevue, aus dem Sicherheitsbereich, hin zur Siegessäule, um die ringsherum alles gesperrt ist, er schaut auf sein Handy, er sucht offenbar nach dem Weg.
Suchen wir den nicht gerade alle?