Drei Menschen berichten vom Tag des Mauerfalls, welche Gefühle dieser Moment in ihnen ausgelöst hat – und wie es war, in der DDR groß zu werden.
„Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“, sagte SED-Sekretär Günter Schabowski am Abend des 9. November 1989 bei einer Pressekonferenz – und ahnte wohl nicht, was er damit auslösen würde. Tausende DDR-Bürger hatten seine Worte im Fernsehen oder im Radio gehört, sie strömten erst zu den Grenzposten an der Berliner Mauer und dann rüber in den Westen. Hier erinnern sich drei Zeitzeugen an den denkwürdigen Abend, der das Ende der DDR einläuten sollte.
Angela Kunze-Beiküfner, 58:
„Ich habe den Mauerfall am 9. November überhaupt nicht mitbekommen, weil ich völlig abgehängt in einem kleinen Dorf in Estland war. Ein paar Tage zuvor war ich dort hingereist, um mich mit Oppositionellen zu treffen, wir haben uns dort beratschlagt, wie es weitergehen sollte mit den Reformprozessen. Am Morgen des 10. Novembers bin ich dann nach Tallinn gefahren. Dort haben mir meine Freunde sofort gratuliert, aber ich wusste gar nicht, warum. Sie haben mir erzählt, dass die Mauer offen ist und mich vor einen Fernseher gezerrt. Ich konnte es erstmal gar nicht glauben. Man sah die Leute über die Mauer in den ehemaligen Todesstreifen klettern.
Angela Kunze-Beiküfner lebt heute in Sachsen-Anhalt
© privat
Die Bilder haben in mir ambivalente Gefühle ausgelöst. Einerseits habe ich mich sehr gefreut, denn in Berlin habe ich in einer Straße gewohnt, die durch die Mauer geteilt war. Ich war mir sicher, dass ich die andere Seite erst sehen werde, wenn ich über 60 Jahre alt bin. Auf einmal war das möglich. Doch gleichzeitig war mir klar, dass die Reformbestrebungen, für dich ich mitgekämpft habe, damit vorbei waren.
Ich konnte es erstmal gar nicht glauben. Man sah die Leute über die Mauer in den ehemaligen Todesstreifen klettern
Ich bin in der DDR in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen. Mein Vater war evangelischer Pfarrer und meine Mutter arbeitete auch im Bereich der Kirche. Für mich war die Kirche ein Rettungsanker, sonst hätte ich es in dem Land nicht ausgehalten. Als am 3. Oktober 1989 die letzte offene Grenze in die Tschechoslowakei geschlossen wurde, war das für mich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Damit waren wir komplett eingesperrt. Da habe ich gemerkt, jetzt muss ich mehr tun als Friedensgebete und Diskussionen hinter Kirchenmauern zu führen – das muss öffentlicher werden.
Wie sich die DDR einmauerte Jahrestag Mauerbau (13.11)
Also initiierte ich Anfang Oktober eine Fastenaktion in der Gethsemanekirche, wo bereits Mahnwachen und Friedensgebete für die zu Unrecht Inhaftierten stattfanden. Ich habe dazu aufgerufen, zehn Tage zu fasten, zog in die Kirche ein und hing meinen Aufruf, den ich auf eine Tapetenrolle schrieb, an die Wand. Innerhalb kürzester Zeit waren wir 30 oder 40 Personen, damit hatte ich nicht gerechnet.
Für mich persönlich war also der 9. Oktober 1989 der wichtigere Tag. Die Armee, die Polizei hat sich an diesem Tag bei Protesten zurückgezogen, in Leipzig, in Dresden, in Berlin – dabei sah es viel mehr nach einem Blutvergießen aus. Doch wie ein DDR-Politiker sagte: Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen und Gebete. Das war der entscheidende Schritt, der friedliche Demonstrationen auf der Straße möglich machte.“
Anke Domscheit-Berg, 56:
„1989 war ich Studentin an der Fachschule für Angewandte Kunst in Schneeberg. Nach den großen Protesten im Oktober hatte ich viel Hoffnung auf das, was wir damals den Dritten Weg genannt haben – also eine Demokratisierung der DDR, Redefreiheit, Pressefreiheit, freie Wahlen, unabhängige Parteien. Auf einmal schien alles möglich! Dabei habe ich aber nie an einen Mauerfall gedacht. Das hat niemand geahnt. Als ich die Nachricht im Radio hörte, fand ich das so unfassbar, dass mir buchstäblich der Kiefer heruntergeklappt ist. Ich habe die Nachrichten sogar mit meinem Tonband aufgenommen, weil ich wissen wollte, ob es am nächsten Tag noch stimmt. Als sich die Nachrichten bestätigten, war ich aber erst mal deprimiert, weil mir klar wurde, dass meine Träume nach Veränderung in der DDR damit gestorben waren. Weil jetzt alle nur noch rüberwollten.
Anke Domscheit-Berg ist Abgeordnete im Bundestag und lebt in Brandenburg
© Jannis Hutt
Am Morgen war ich dann aber genauso euphorisch wie alle anderen. Da war eine riesengroße Neugier! Eine Freundin und ich sind zur Polizei, um einen Ausreisestempel zu bekommen. Mit dem Stempel bin ich vom Erzgebirge zu meinen Eltern ins Brandenburgische gefahren. Am nächsten Tag waren wir zu einer Freundin meiner Mutter nach West-Berlin eingeladen.
Am 11. November bin ich also mit meinen Eltern das erste Mal in den Westen. Der Grenzübergang Bernauer Straße war so voll, dass ich das Gefühl hatte, die halbe DDR wollte da durch. Meinen Stempel wollte dort aber gar keiner mehr sehen. Ich habe in meinem ganzen Leben nie wieder solch eine Euphorie erlebt – nicht einmal bei meiner eigenen Hochzeit. Es war, als wären alle Menschen irgendwie gedopt gewesen, Wildfremde haben sich umarmt und gegrüßt. Wenn einer geniest hatte, kamen gleich zehn mit einem Taschentuch. Alle waren wie Brüder und Schwestern.
Ich habe die Nachrichten sogar mit meinem Tonband aufgenommen, weil ich wissen wollte, ob es am nächsten Tag noch stimmt
Ich war erst 21 Jahre alt und fasziniert von den Läden in Westberlin, auch ohne Westgeld. Deshalb habe ich mich einfach in den Geschäften umgesehen. Bei einem, der Schmuck verkaufte, fragte mich der Inhaber, ob ich Ossi sei. Als ich bejahte, sagte er: ‚Herzlich willkommen! Haben Sie Hunger? Haben Sie Durst?‘ Und dann hat er mir sofort seinen Frühstücksbeutel mit Bananen und Joghurt gegeben. Später stand ich vor einem Schuhladen und die Verkäuferin fragte mich ebenfalls: ‚Sind Sie aus der DDR?‘ Ich bejahte wieder. Da brachte sie ein Blech Apfelkuchen um die Ecke, den sie die Nacht davor für uns Ossis gebacken hatte. Mitten im Schuhladen wurde ich mit Kuchen und Kaffee bewirtet.
Weil uns Verwandtschaft im Westen auch Pakete mit Kleidung geschickt hatte, die ich da trug, hat man mir äußerlich die Ostherkunft wahrscheinlich gar nicht angesehen. Aber ich vermute, dass es meine Augen waren. Wahrscheinlich sah ich aus wie ein fasziniertes Kind.
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Später bin ich gemeinsam mit meiner Mama Richtung Brandenburger Tor marschiert. Dort, wo die ikonischen Fotos entstanden sind. An der Mauer lehnte ein altes Bettgestell mit Metallfedern, als eine Art Leiterersatz. Wir kletterten darüber, die Menschen oben auf der Mauer hievten uns hoch. Oben drehte ich mich um meine eigene Achse und sah auf der einen Seite das Brandenburger Tor und auf der anderen die Wiese mit den vielen Menschen. Osten und Westen.
Das war für mich der wichtigste Moment. Da habe ich verstanden, das ist jetzt ein unumkehrbarer Prozess. Wir haben gewonnen! Die können alle einpacken, die ganzen Honeckers und Krenz und wie sie alle hießen. Ich würde sagen, dieses Erlebnis hat mich ultimativ politisiert. In diesem Moment habe ich begriffen, dass man völlig unwahrscheinliche, gigantisch große Veränderungen erreichen kann, auch wenn man es eigentlich nicht für möglich hält. Diese Erkenntnis ist mein Motor. Sie hilft mir noch heute, auch in wirklich finsteren Zeiten, die Hoffnung nicht zu verlieren.“
Thomas Wieske, 66:
„Als ich vom Mauerfall hörte, war da als Erstes ein Gefühl von großer Freude. Ich hatte bereits 1978 die DDR verlassen. Genauer gesagt, wurde ich freigekauft. Im Herbst zwei Jahre zuvor hatte ich einen Fluchtversuch gewagt, weil ich Zweifel am DDR-System hatte. Man hatte meine Mitschüler und mich dazu gedrängt, uns ‚freiwillig‘ drei Jahre für die Armee zu verpflichten. Es hieß, sonst dürften wir womöglich nicht studieren. Ich blieb zwar standhaft, aber der Prozess hat mir klargemacht: Wenn du hier was werden willst, dann wirst du immer wieder an die Grenze kommen, wo von dir eine parteiliche Haltung verlangt wird. Das wollte ich nicht. Mein Plan war, über Südböhmen nach Österreich zu fliehen. Doch bereits in der Bahn nach Südböhmen nahmen mich die Grenzsoldaten fest. 16 Monate war ich dafür in DDR-Haft.
Der Juraprofessor Thomas Wieske lebt heute in Hamburg
© privat
Am letzten Hafttag erhielt ich eine Urkunde zur Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft und die Mitteilung, dass ich nach West-Berlin entlassen werde. Am 8. Februar 1978 drückte mir ein Anwalt, der sich um meinen Freikauf gekümmert hatte, irgendwo in Berlin 100 Mark und ein Flugticket nach Hamburg zu meinem Bruder in die Hand. Es war ein extremes Gefühl, nach fast anderthalb Jahren auf einmal auf der Straße zu stehen. Der Westen hatte auch ganz andere Farben. Er war bunt, die DDR hatte immer diese verwaschenen grauen Töne.
Als ich vom Mauerfall hörte, war da als erstes ein Gefühl von großer Freude
In Hamburg habe ich dann Jura studiert, durfte aber bis zum Mauerfall nicht mehr in die DDR einreisen, auch nicht, als mein Vater starb. Ich frage mich noch heute, ob ich eigentlich Ossi oder Wessi bin. Zwar bin ich die ersten 20 Jahre im Osten groß geworden, habe jetzt aber 40 Jahre im Westen gelebt. Ich glaube, ich fühle mich heute vor allem als Hamburger. Besonders die Elbe ist für mich ein verbindendes Glied. Denn wie Hamburg liegt auch der Ort Aken, an dem ich groß geworden bin, an diesem Fluss. Ich denke, dass Menschen, die im Osten sozialisiert sind, noch heute sensibler auf Phrasen und Doppelsprech reagieren als echte Wessis.
Ich muss aber zugeben, an den 9. November 1989 erinnere ich mich vor allem im privaten Zusammenhang. An diesem Tag haben meine Frau, unser Baby und ich die Schlüssel für unsere neue Wohnung in Hamburg bekommen. Ich war damals eigentlich begeisterter Seher der Tagesthemen, doch genau an diesem Tag habe ich keine Nachrichten geschaut. Erst am nächsten Tag habe ich mitbekommen, dass die Grenzen geöffnet sind.
Was aber witzig ist: Als wir etwas später die Makler nach der Nummer der vorherigen Besitzer fragten, durfte er uns die Nummer nicht geben. Es war nämlich der Telefonanschluss von Hajo Friedrichs. Also des Tagesthemensprechers, der am 9. November die Mitteilung gegeben hat, dass die Grenzen geöffnet sind.“