Seit Sonntag wird die EM nur noch zur angeblich besten Sendezeit ausgespielt, keine Übertragung am Nachmittag mehr. Unseren Reporter erfasst eine seltsame Leere: Was soll er denn jetzt machen, wenn nicht Georgien gegen Tschechien gucken?
Die Halbwertszeit der menschlichen Erinnerung ist manchmal eine sehr kurze. Noch vor drei Wochen hätte ich mich über einen freien Nachmittag gefreut, um ihn sicherlich zu nutzen für… tja, das ist eben die Preisfrage: Für was denn nur? War ich im Schwimmbad gewesen, war das Wetter gut genug? Hatte ich geschrieben, konferiert, telefoniert? Ein Eis gegessen? Es mag mir jetzt, nach dieser sich ihrem Ende entgegen neigenden Vorrunde, leider gar nicht mehr einfallen. Denn wie ein festes Date hatten bis Samstag noch die 15-Uhr-Spiele der EM im Plan gestanden, deretwegen allein sich schon die Vormittage besser ertragen ließen und die Freude auf den Abend gesteigert wurde.
15 Uhr: Das ist mir und vielen Fans schnell der emotionale Fluchtpunkt eines jeden Turniertages geworden, jene verheißungsvolle Stunde, auf die alle vorherigen zuzulaufen schienen.
Denn damit ging es ja los. Und danach, auch das wusste man, ging es weiter.
Kein taktisches Abtasten, nur Spektakel
Gewiss, die Entscheidung, die EM von 16 auf 24 Teams aufzublähen und somit auch Gruppendritten ein Weiterkommen zu ermöglichen, ist vielfach kritisiert worden, 2016 und 2021 sicherlich zurecht. Damals hatte es etliche dahinplätschernde Partien gegeben, spannungslose Nichtangriffspakte limitierter Mannschaften, die sich einmauerten, weil auch schon drei Remis für das Achtelfinale reichen konnten. Als Zuschauer sah man der Zeit dabei zu, wie sie sich selbst totschlug.
Es hätte wieder so kommen können. Und kam doch ganz anders.
Denn was sind uns für Spektakel geboten worden an den Nachmittagen!
Kroatien gegen Albanien, wild und unberechenbar hin- und herwogend. Zuvor schon Polen gegen die Niederlande, ein Chancenfestival, spannend bis zum Schluss. Die Slowakei gegen die Ukraine natürlich, mit einem fabelhaften Tor, an dem sich ein ganzes Land wieder aufrichten durfte. Zuletzt die nimmermüden Tschechen gegen wackere Georgier, die man bei ihrem Nachspielzeitkonter ins Tor schreien wollte.
Rumänien gegen die Ukraine spielt, wo ist der nächste Fernseher? Schon jetzt, am 3. Gruppenspieltag, ist es vorbei mit den 15-Uhr-Spielen.
Wer will denn ins Meeting, wenn er auch zwei Balkanstaaten dabei zusehen kann, wie sie sich ohne jede taktische Zurückhaltung bestürmen? Wer braucht ein Schwimmbad, wenn er in den Emotionen baden kann, die ein später Ausgleich von Klaus Gjasula freisetzt?
Beste Sendezeit? Nicht mit mir, Uefa!
Aber seit Sonntag wird, vermaledeite Uefa, nur noch am frühen oder späten Abend gespielt, zur – wie es dann immer gerne heißt – besten Sendezeit.
Wobei sich in dieser Begründung freilich nicht nur eine gnadenlose Verkennung der Tatsachen ausdrückt, eine Ignoranz gegenüber des eigentümlichen Rhythmus, in den Fußballbegeisterte während eines Turniers fallen und der sich nicht nach dem Stand der Sonne richtet, sondern dem nächsten Bier. Beste Sendezeit – darin schwingt auch eine nachträgliche Abwertung des 15-Uhr-Slots mit, für die es nach dieser Vorrunde keinen Grund mehr gibt.
Sinfonien der Anspannung waren diese frühen Partien nämlich fast alle. Sagenhafte Nachmittage in brütender Hitze oder auch mal bei sintflutartigen Regengüssen, das Wetter so extrem wie das, was wir auf dem Rasen bestaunen durften.
Die Albaner freuen sich über ihren späten Ausgleich gegen Kroatien – und unser Autor freut sich mit. Denn hier spielen noch die Kleinen, die es angeblich gar nicht mehr gibt.
Man konnte die Nachmittagsspiele am Fernseher genießen wie ein Groundhopper oder Talentscout, der dort, im immer noch wilden Osten Europas, nach dreifachem Umsteigen und einer langen Fahrt mit dem Überlandbus, etwas entdecken sollte, was anderen bis dato verborgen geblieben war. Es war, als öffnete sich jeden Tag wieder eine Tür zu einer Welt, von der man gar nicht wusste, dass man sie braucht. Fußballeskapismus im besten aller Sinne. Das Gefühl, das Richtige zu tun, auch wenn es falsch aussehen mochte, jedenfalls für den Kollegen im Büro nebenan, die rasenmähenden Nachbarn oder einfach weniger Fußballinteressierte.
Wer um 15 Uhr nicht einschaltet, hat die EM nie geliebt
Wer die 15-Uhr-Spiele geschaut hat, hat die EM in ihrer Gesamtheit umarmt, nicht nur die in die Prime Time terminierten Highlightmatches. Hat einen Blick gehabt auch für die Abseitigkeiten eines solchen Turniers, die Geschichten hinter den Geschichten, die Namenlosen im Schatten der Stars.
Ramadani statt Ronaldo, Gvelesiani statt Griezmann, Karničnik statt Kane.
Für Außenseiter also, die sogenannten Kleinen, die es ja angeblich gar nicht mehr geben sollte, die aber trotzdem allnachmittäglich wieder einliefen in Hamburg, Leipzig und Berlin. In den Gesichtern der Stolz, überhaupt dabei zu sein, und in den Füßen das Potenzial, zur Überraschungsmannschaft zu werden. Denn eine solche braucht jedes Turnier.
An ihrer aller Stelle tritt nun eine merkwürdige Leere, sie muss irgendwie gefüllt werden. Vielleicht, bei Gott, mit einer Konferenz, mit echter Arbeit. Vielleicht auch mit einem Eis, Geschmacksrichtung Mamardaschwili. Ich für meinen Teil habe gegoogelt, wo das nächste Schwimmbad ist. Dort will ich liegen und auf dem Handy nochmal die Highlights von Rumänien gegen Ukraine ansehen.