Inside Charité: Wie die Charité interne Probleme kommentiert – ein Faktencheck

Im September hatte ein Reporterteam des stern und RTLMissstände in Deutschlands größten Klinik aufgedeckt. Diese wirft dem Team nun vor, unsauber gearbeitet zu haben. Stimmt das?

Die Recherchen von stern und RTL in Deutschlands größtem Krankenhaus, der Charité, haben seit September eine Debatte entfacht. Ein fiebernder Patient, kaum noch ansprechbar, wartete blutend stundenlang auf eine Fachärztin. Eine Pflegerin verabreichte einem Baby versehentlich eine Überdosis eines Medikaments. Eine Ärztin sprach offen aus, was viele Kolleginnen und Kollegen zu denken scheinen: „Ich bin kurz vorm Zusammenbrechen.“

Diese und viele andere Missstände hatte ein Reporterteam in einer neunmonatigen Recherche aufgedeckt. Es hatte mit Dutzenden Patienten und Angehörigen gesprochen, mit Ärzten, Managern und Fachleuten, und Zugang zu internen Dokumenten gehabt. Zudem hatten drei Reporterinnen zwischen März und August mehrere Wochen lang als Pflegepraktikantinnen auf drei Stationen der Charité gearbeitet und undercover die Recherchen dokumentiert. Sie arbeiteten sechs Tage auf der Urologiestation, zehn Tage auf der Mukoviszidosestation sowie 17 Tage auf der Neurochirurgie. stern und RTL liegen damit umfangreiche Bild- und Tondokumentationen vor, um die Missstände aufzuzeigen. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Klinik haben sich nach der Veröffentlichung bei uns gemeldet und sich dafür bedankt, dass wir ihre Überlastung öffentlich gemacht haben.

Neben dramatischen Fallbeispielen zeigten die Recherchen strukturelle Missstände auf, die viele Kliniken in Deutschland betreffen: überlastete Ärzte, zu wenig Ausbildung der Studierenden. Zwei Umfragen, unter insgesamt mehr als 300 Ärzten und Studenten, bekräftigten, dass es sich nicht um Einzelfälle handelte. Auch das machte die Berichterstattung klar: Die Behandlungsqualität in Deutschlands Kliniken ist insgesamt nicht gut genug. Die Charité ist nur ein Beispiel, allerdings für manche vielleicht ein überraschendes. Weil die erlebte Wirklichkeit auf den Fluren der Charité nicht zu dem immer noch ausgezeichneten Ruf als Deutschlands bester Klinik und Forschungsstätte der Spitzenmedizin zu passen scheinen. 

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Die Charité hat sich nach der Veröffentlichung in inzwischen drei öffentlichen Stellungnahmen gegen die Berichterstattung gewehrt. Die erste erschien am Morgen des 12. September, als der stern mit seiner Titelgeschichte „Ein krankes Haus“ am Kiosk lag. In dieser bezeichnet die Charité die Vorwürfe gegen das eigene Haus „in wesentlichen Punkten“ als „ungerechtfertigt“. 

Am Abend desselben Tages strahlte RTL eine 90-minütige TV-Dokumentation aus, in der die Zuschauer viele im stern beschriebenen Szenen mit eigenen Augen sehen konnten – natürlich zum Schutz der Mitarbeiter und Patienten umfangreich verpixelt und mit verfremdeten Stimmen. Daraufhin veröffentlichte die Charité ein zweites Statement, in dem sie einräumte: „Zugleich haben uns Aufnahmen betroffen gemacht, die die Einhaltung unserer hohen Qualitätsstandards in Einzelfällen in Frage stellen. Wir werden diese Vorgänge unter Berücksichtigung neu vorliegender Informationen detailliert überprüfen, so wie wir es bei internen oder externen Hinweisen zu tun pflegen. Sollten sich in Ausnahmefällen Vorwürfe bestätigen, bedauern wir dies aufrichtig und werden konsequent Gegenmaßnahmen ergreifen.“

Am 19. November veröffentlichte die Charité ein drittes Statement, offenbar nach der zuvor angekündigten detaillierten Prüfung der Fälle. Darin wiederholt die Klinik ihre Behauptung, die Berichterstattung von stern und RTL beinhalte „unberechtigte Vorwürfe“. Deswegen habe die Charité „rechtliche Schritte“ gegen stern und RTL eingeleitet. Konkret äußert sich die Klinik in der Stellungnahme zu fünf beschriebenen Fällen aus der Berichterstattung. 

Auffallend ist dabei, wie viele der aufgedeckten Missstände die Charité offenbar auch dieses Mal nicht kommentieren möchte. Der stern hat die neuen Aussagen der Klinik geprüft. 

Behauptung 1: Klagen oder nicht klagen? Das ist hier die Frage

Die Charité schreibt in ihrer Stellungnahme, sie habe rechtliche Schritte gegen die Berichterstattung von stern und RTL eingeleitet. Der „Tagesspiegel“ und das „Deutschen Ärzteblatt“ zitiert die Klinik zudem am 20. November damit, sie habe Klage eingereicht beziehungsweise klage gegen die Berichterstattung.

Faktenlage:

Bis zum heutigen Tag ist weder dem stern noch RTL eine Klage der Charité von einem Gericht zugestellt worden.

Behauptung 2: Der Fall Elisabeth Reichenbach*

Die Charité schreibt:

Die Darstellung des Falls einer 88-jährigen Patientin ist unter mehreren Gesichtspunkten und insbesondere im Kernvorwurf falsch.
Richtig ist: Die betreffende Patientin wurde wegen des Befundes einer Hirnblutung in der Charité behandelt. Mehrere Tage nach einer Operation und Stabilisierung der Patientin entschied das Ärzteteam, dem Wunsch der Patientin nachzukommen und eine Verlegung der Patientin in ein Geriatriezentrum zu veranlassen. Es fand keine Entlassung nach Hause statt. Die Patientin wurde am gleichen Tag erneut aufgenommen. Allerdings nicht aufgrund einer vermeintlich übersehenen Hirnblutung oder nicht ärztlichen Untersuchung, sondern wegen einer anderen Erkrankung, einer Lungenarterienembolie. Das Auftreten einer frischen Hirnblutung wurde im Rahmen einer CT-Untersuchung ausgeschlossen.

Faktenlage:

Die Klinik benutzt einen Klassiker unter den rhetorischen Ablenkungsmanövern: auf einen angeblichen Vorwurf reagieren, den so niemand aufgestellt hat. Denn stern und RTL hatten in ihrer Berichterstattung nicht behauptet, Frau Reichenbach sei „nach Hause“ entlassen worden. Wir schrieben, sie sei in die Reha entlassen worden und einige Stunden später zurück in die Klinik gebracht worden. 

Vor der Veröffentlichung hatten stern-Reporter Frau Reichenbach besucht und konnten Einblick in ihre Patientenakte nehmen. Aus der ging klar hervor, dass die Charité am Tag ihrer Wiedereinlieferung eine Lungenembolie bei Frau Reichenbach feststellte. Trotzdem verlegte die Charité sie nicht in eine Station für Innere Medizin, in der Patienten mit einer Lungenembolie üblicherweise behandelt werden. Stattdessen lag die alte Dame bis zu ihrer erneuten Entlassung – acht Tage später – weiterhin auf der Station Neurochirurgie.

Wichtiger noch: Der Kern der Darstellung des stern bei der Behandlung von Elisabeth Reichenbach bezog sich nicht auf ihre erste Entlassung, sondern auf die zweite. Am Abend vor ihrer erneuten Entlassung fühlte Frau Reichenbach sich wackelig, ihr war schwindelig und sie sackte in den Armen der Reporterin weg. Der Schwindel konnte sowohl auf eine weitere Lungenembolie, als auch auf eine neue Hirnblutung oder aber auch auf andere Ursachen wie Blutdruckschwankungen hinweisen. Als eine Pflegerin deshalb den diensthabenden Arzt im OP anrief, kam es zu folgender in der stern-Titelgeschichte beschriebenen Szene:  

Auf der Station M115, hoch oben im Bettenturm, legt die Krankenschwester Jasmin* ein Stationstelefon weg, Entsetzen im Blick. Elisabeth Reichenbach*, eine alte Dame, wurde mit dem Verdacht auf eine Hirnblutung eingeliefert. Die Ärzte hatten sie schon einmal in die Reha entlassen, obwohl eine Pflegerin gesagt hatte, dass ihr die Patientin gar nicht gefalle. Nur Stunden später musste sie zurückgebracht werden.

Jetzt ist Frau Reichenbach schwindlig, ihr Blutdruck hoch. Schwester Jasmin will, dass ein zuständiger Arzt kommt. 

Stirbt die Frau gerade?

Nein.

Gut, dann später bitte noch einmal anrufen.

So gibt die Schwester das Gespräch wieder, nachdem sie aufgelegt hat. Am nächsten Tag wird Frau Reichenbach entlassen.

Interessant ist deshalb, dass die Charité über die Umstände dieser zweiten Entlassung in ihrer Stellungnahme überhaupt nichts schreibt. Warum, wenn es sich doch angeblich um eine falsche Darstellung des „Kernvorwurfs“ handelt?

Behauptung 3: Der Fall Joachim Meisner*

Die Charité schreibt:

Des weiteren wurden die Vorwürfe auf den Fall eines Patienten gestützt, der unter anderem mit starkem Fieber und Blutung aus dem Genital dargestellt wurde. Die Behandlung dieser neu aufgetretenen Symptome sei weitgehend durch alleingelassene Pflegende und Medizinstudierende im Praktischen Jahr („PJ-ler“) erfolgt. Das Briefing für die Übergabe des Patienten an die Intensivstation sei anfangs auch durch die als Praktikantin getarnte Reporterin erfolgt.
Richtig ist: Der Patient hatte keine Uro-Sepsis, die zu dem Zeitpunkt neu aufgetreten wäre. Er wurde wegen eines Hirnabszesses und eines hirnorganischen Psychosyndroms (HOPS) mit Antibiotika behandelt. Bei einem HOPS ist hohes Fieber ein typisches Symptom. Das Fieber wurde von den Ärzt:innen erkannt, überwacht und zutreffend medizinisch bewertet und behandelt (bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme wurde der Patient antibiotisch behandelt). Darüber wurde die Ehefrau des Patienten in mehreren Gesprächen informiert. Der blutig tingierte Urin stand nicht im Zusammenhang mit dem Fieber und folgte aus einer – aus klinischer Sicht unkomplizierten – geringen Blutung der Harnröhre im Rahmen einer Harnblasen-Katheteranlage. Etwaige Behandlungen erfolgten gemäß ärztlichen Bewertungen, Rücksprachen und Anweisungen. Nach Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Patienten instruierte auch ein Arzt einen PJ-ler, den Patienten zur Intensivstation zu begleiten, nachdem der Arzt auch die Übergabe an die Intensivstation eingeleitet hatte. Der Patient war den Ärzt:innen und Pfleger:innen der Intensivstation bereits aufgrund der zeitnahen vorherigen Behandlung gut bekannt. Gleichwohl erfolgte einepersönliche ärztliche Übergabe unmittelbar von dem Stationsarzt an die Ärztin der Intensivstation.

Faktenlage:

Auch hier wehrt sich die Charité gegen eine vermeintlich zentrale Kritik, die stern und RTL gar nicht erhoben haben. In keiner der Veröffentlichungen behaupten unsere Autoren, Herr Meisner* habe eine Uro-Sepsis gehabt. 

Wir haben das in unseren Veröffentlichungen nicht einmal erwähnt, da die finale Diagnose – Sepsis oder nicht – unserer Ansicht nach nicht entscheidend war für die Versäumnisse im Fall Meisner. 

Entscheidend erschien uns, dass sich der bedenkliche Zustand des Patienten – über fast 24 Stunden sehr hohes Fieber, zunehmende Verwirrtheit – trotz Antibiotika und fiebersenkender Medikamente nicht erkennbar verbesserte. Dass der Mann außerdem so sehr aus  seinem Geschlechtsorgan blutete, dass das Bettlaken sich rot färbte. Ein Assistenzarzt der Neurochirurgie bat sogar bei der Urologie um Hilfe, aber über Stunden kam kein Facharzt. Diese Szene wurde bei RTL ausgestrahlt. Stattdessen wurde Herrn Meisner vom Pflegepersonal der Neurochirurgie eine Windel angezogen. 

Dazu kommt: Das Rechercheteam zeigte die Undercover-Aufnahmen vor der Ausstrahlung mehreren Medizinern mit der Bitte um Einschätzung. Diese waren einhellig der Meinung, die Ärzte der Charité hätten nicht frühzeitig adäquat reagiert, um die Infektion unter Kontrolle zu bringen. Im weiteren Krankheitsverlauf, nachdem Meisner dann endlich auf die Intensivstation verlegt worden war, wurde dort festgestellt, dass der Patient zu allem Überfluss mit einem Medikament behandelt worden war, gegen das er allergisch ist

Auch dieses Detail übergeht die Charité in ihrer Stellungnahme. Stattdessen findet sich im Statement der Klinik eine andere Information: Meisner habe demnach ein hirnorganischen Psychosyndroms (HOPS) gehabt, das das Fieber ausgelöst habe. Fakt ist: An dem Tag, an dem der Patient schließlich wegen des anhaltend hohen Fiebers auf die Intensivstation verlegt wurde, war zu einem hirnorganischen Psychosyndroms auf der Visitenliste, die die Pfleger zur Verfügung hatten, nichts vermerkt. 

Die ganze Passage aus der stern-Titelgeschichte zum Fall Meisner lautet wie folgt: 

In Zimmer 5 blutet Joachim Meisner*, Anfang 50, aus seinem Penis. Sein Bettlaken färbt sich dunkelrot. 

Er liegt seit gut drei Wochen in der Klinik, ein Abszess am Hirn, er wurde operiert. Eine Schwester hatte einen Katheter aus Herrn Meisner gezogen, seither blutet er.

Seit dem Morgen verschlechtert sich sein Zustand. Das Thermometer zeigt inzwischen 39,6 Grad. Sein Puls geht schnell, 125 Schläge pro Minute, sein Blick wirkt entrückt, auf Fragen reagiert er kaum noch. Es sind klassische Anzeichen einer Sepsis, einer Blutvergiftung. Etwa jeder dritte Patient stirbt daran, manche innerhalb weniger Stunden. Oft beginnt es mit einer Harnwegsinfektion. Irgendwann sagt eine der Schwestern, seit Jahrzehnten im Beruf, es stehe doch im Raum, dass da irgendwo eine Infektion sei. 

Nach und nach versammelt sich um Meisners Bett eine Abordnung blauer, grüner und weißer Kittel. Als Erstes kamen zwei Schwestern, dann eine Medizinstudentin, dann mehrere junge Assistenzärzte. Sie alle scheinen ratlos, ein Assistenzarzt versucht, einen Urologen zu Hilfe zu rufen, weil er selbst nicht erfahren genug sei.

Es vergehen Stunden, bis am Abend eine Urologin kommt und Herrn Meisner einen neuen Katheter legt. Das eigentliche Problem, die Fieberursache und die mögliche Blutvergiftung, behandelt sie offenbar nicht.

Am nächsten Mittag wird Herr Meisner auf die Intensivstation verlegt. Die Ärzte dort sehen den Ernst der Lage. Sie stellen zudem fest, dass Meisner in der Neurochirurgie den Fiebersenker Novalgin bekommen hat, trotz einer Allergie, die in der Klinik bekannt ist. Ein zusätzliches Risiko für einen Patienten in seinem Zustand. 

Seine Frau weint, als sie die Klinik verlässt. Sie kann nicht hören, wie mehrere Schwestern und Ärzte sagen, dass sie solche Situationen zu oft erlebten. Kein erfahrener Arzt verfügbar, nur Studenten und Berufsanfänger. Auch in eiligen Fällen könnten sie sich nicht immer darauf verlassen, schnell jemanden zu bekommen, der über das nötige Wissen und die Erfahrung verfüge.

Behauptung 4: Der Fall der krebskranken Kinder auf der Mukoviszidose-Station

Die Charité schreibt:

Hinsichtlich einer krebskranken Patientin (16 Jahre) ist entgegen etwaiger, in diesem Zusammenhang erhobener Kritik richtig:
Die Patientin wurde wegen eines Infekts und nicht für eine onkologische Therapie stationär aufgenommen. Die Behandlung war zeitkritisch. Die Patientin wurde daher auf der Station mit einem infektiologischen Schwerpunkt (Mukoviszidose, Allergologie, Pneumologie) der Kinderklinik in einem Einzelzimmer unter der Berücksichtigung und Einhaltung der nötigen hygienischen Maßnahmen (Umkehrisolierung) behandelt. Es fanden täglich Visiten statt – sowohl von Ärzt:innen der onkologischen Station als auch von den Ärzt:innen der Station Mukoviszidose, Allergologie, Pneumologie. Die Patientin lag auch nicht ohne entsprechende Isolationsmaßnahmen mit anderen Normalpatient:innen zusammen, sondern auf einem Einzelzimmer. Dieses durfte nur unter Einhaltung von Schutzmaßnahmen, insbesondere Desinfektion und Schutzbekleidung, betreten werden.

Faktenlage:

Unsere Undercover-Reporterin hat sich als Pflegepraktikantin intensiv um die 16-jährige Patientin und deren Mutter gekümmert. Während ihres zweiwöchigen Praktikums und ihrer Schichten hat sie keinen Onkologen auf dem Zimmer der Patientin gesehen. Es kann durchaus sein, dass Onkologen auf der Station waren, sich etwa  die Messwerte der Patientin von Kollegen haben zeigen lassen. Die Mutter der Patientin bestätigte im Gespräch mit unserer Reporterin jedoch mehrmals, dass sich die Onkologen nicht persönlich um ihre Tochter kümmerten: „Es kann ja nicht sein, dass ich alle drei Tage Theater machen muss, dass sie nicht abgehorcht wird, dass sie nicht kontrolliert wird, dass die Medikamente nicht überprüft werden.“ Auch deswegen begibt sich die Mutter, wie in unserem Film dokumentiert, selbst zur Onkologiestation, um einen Arzt anzufordern.

Zudem betonten mehrere Pflegekräfte der Mukoviszidosestation im Gespräch mit unserer Reporterin, sie könnten sich nicht angemessen um Onkologie-Patienten wie die 16-jährige Patientin kümmern . Sie verfügten nicht über die spezialisierte Ausbildung und könnten die intensive Betreuung nicht leisten: „Die haben viel mehr Medikamente. Das können wir hier zum Teil nicht wuppen.“ Eine andere Pflegekraft sagte unserer Reporterin gegenüber, es sei „leider üblich“, dass die Mutter des Mädchens den Ärzten hinterherlaufen müsse.

Unsere Reporterin betreute als Pflegepraktikantin ein zweites krebskrankes Kind auf der Mukoviszidosestation. Dieses kommt in der Stellungnahme der Charité nicht vor. Das Rechercheteam hat die Undercover-Aufnahmen zu beiden krebskranken Kindern zur Einschätzung mehreren Medizinern gezeigt. Diese befanden, trotz der Einzelzimmer hielten sie es für gefährlich, die immungeschwächten Kinder auf derselben Station wie hochinfektiösen Patienten unterzubringen. Ein Experte hielt das sogar für nicht zulässig. Er urteilte in der RTL-Doku: „Station schließen, das geht überhaupt nicht.“      

Zusammengefasst: Die Berichterstattung von stern und RTL zeigt auf, dass zwei krebskranke Mädchen auf einer Station liegen, die nach Ansicht mehrerer Experten potenziell lebensgefährlich für sie ist. Wenn man genau liest, was die Charité dazu schreibt, dann widerspricht sie dem gar nicht. Sie argumentiert nur, in den konkreten Fällen alle Vorkehrungen getroffen zu haben, um die Gefahr kleinzuhalten.

Die ganze Passage aus der stern-Titelgeschichte über die krebskranken Mädchen zum Nachlesen:

Die Station für Mukoviszidose, Campus Virchow im Berliner Stadtteil Wedding, ist klein, zwei Flure, 18 Zimmer. Viele Patienten tragen ansteckende Keime in sich. Ein Baby hat Keuchhusten, hochinfektiös, die Schwestern betreten sein Zimmer nur mit Maske. Trotzdem liegen zwei krebskranke Mädchen mit geschwächtem Immunsystem auf der Station. Jede Infektion ein mögliches Todesurteil.

Behauptung 5: Hygieneregeln auf der Station

Die Charité schreibt:

In einem weiteren Fall, der sich auf dieser Station abspielte, wird der Vorwurf einer mangelnden Aufklärung der als Reporterin getarnten Praktikantin erhoben.
Richtig ist: Die Reporterin begleitete in ihren ersten Tagen, wie an dem dargestellten Tag, eine unserer Pflegekräfte auf Station. Noch vor dem Betreten des betreffenden Zimmers wurde die Praktikantin darauf hingewiesen, dass ein Zutritt ohne Schutzkleidung nicht erlaubt ist. Im Übrigen werden auf dieser Station täglich Belegungspläne verteilt, die u.a. auch auf Ansteckungsrisiken der Patient:innen in den betreffenden Zimmern hinweisen. Zudem sind an den betreffenden Zimmern der Station eindeutige Warnschilder mit einem roten Stopp-Schild angebracht. Die Pflegekraft betrat allein und in Schutzkleidung das Zimmer. Die Praktikantin wartete vor der Tür, bis sie von der Pflegekraft gebeten wurde, ein Maßband zu holen. Beim Übergeben des Maßbandes wurde die Praktikantin erneut von der Pflegekraft sensibilisiert, sich in dem Raum nicht ohne Schutzkleidung aufzuhalten. Die Äußerung der Reporterin „Ok, das hat mir nämlich keiner gesagt“ in der sich daran anschließenden Szene des Beitrags ist insoweit nicht nachvollziehbar.

Faktenlage:

Die Schilderung der Charité entspricht laut unseren Recherchen nicht den Tatsachen. Unsere Reporterin hat über die gesamte Dauer ihres Praktikums keine Hygieneschulung bekommen – obwohl sie auf einer Station arbeitet, auf der Patienten mit einer ganzen Reihe hochansteckender Krankheiten liegen: mit dem Krankenhauskeim MRSA, Streptokokken oder Keuchhusten zum Beispiel. Niemand vom Stationspersonal hat sich die Zeit genommen, sich mit ihr hinzusetzen und ihr die auf der Station vorherrschenden Krankheitsbilder, Ansteckungsrisiken und Schutzmaßnahmen zu erklären. Stattdessen hat sie nach bestem Wissen und Gewissen versucht, sich das Hygieneverhalten des Pflegepersonals abzuschauen und Fragen gestellt. 

Ein konkretes Beispiel: Auf den täglich verteilten Belegungsplänen waren die Krankheiten der Patienten aufgelistet. Aber keinerlei Hinweis, welche Schutzmaßnahmen notwendig sind.

Die von der Charité angesprochene Begebenheit spielte sich am Abend des zweiten Praktikumstags unserer Undercoverreporterin ab. Die Szene ist fortlaufend mit Bild- und Ton festgehaltenen. Ein Baby mit Keuchhusten wird eingeliefert, eine Pflegerin versorgt es in einem Zimmer, anwesend ist außerdem die Mutter. Die Schwester bittet unsere Reporterin, ein EKG-Kabel zu holen. Als sie das Kabel ohne Schutzkleidung ins Zimmer bringt, protestiert die Schwester nicht. Mehr noch, auch die Mutter, die minutenlang am Kinderbett steht, trägt keinen Schutzkittel. Die Klinikschwester weist auch die Mutter nicht zurecht. Sie bittet die Reporterin stattdessen die Werte des Babys auf einem Zettel zu notieren. 

Erst dann kommt eine zweite Schwester. Und erst sie weist unsere Reporterin darauf hin, dass sie wegen des Keuchhustenkindes einen Schutzkittel tragen sollte. 

Die ganze Szene dauert rund sechs Minuten. In der stern-Titelgeschichte kommt diese Begebenheit gar nicht vor. In der TV-Dokumentation ist lediglich der Moment zu sehen, als die zweite Schwester unsere Reporterin zurecht weißt. Die Sequenz dauert rund 20 Sekunden. Das heißt in anderen Worten: Der Film zeigt sogar eine für die Charité schmeichelhafteres Abbild der tatsächlichen Gegebenheiten. Denn der Einspruch der zweiten Schwester gegen die mangelnde Hygiene erfolgt in der Wahrnehmung des Zuschauers viel schneller als es in der Realität der Fall war.

Behauptung 6: Der Fall Marc Omar

Die Charité schreibt:

Weiterhin ist hinsichtlich eines Patienten, der die Charité auf Schmerzensgeld und Schadensersatz verklagt hat, klarzustellen: Das Gerichtsverfahren läuft schon seit mehreren Jahren und ist noch nicht abgeschlossen. Mittlerweile liegen in diesem Fall zwei gerichtlich bestellte Gutachten vor. Beide Gutachten kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die im Klageverfahren geltend gemachten Schäden des Patienten nicht auf die Behandlung in der Charité zurückzuführen sind.

Faktenlage:

Bei dem Fall handelt es sich um den Berliner Galeristen Marc Omar, der gegen die Charité klagt und umfassende Unterlagen mit dem Rechercheteam geteilt hat. Er wurde eines Abends mit einer Kopfwunde in der Notaufnahme der Charité eingeliefert. Die Ärzte machten keine Computertomografie, schickten ihn am nächsten Vormittag nach Hause. Doch seine Frau hatte den Eindruck, mit ihm stimme etwas nicht. Kurz später musste Omar mit dem Rettungswagen in die Charité eingeliefert werden. Erst da machen die Ärzte eine Computertomografie seines Gehirns. Diese zeigt deutlich eine massive Gehirnblutung und eine Schädelfraktur. Omar sagt, er leide bis heute an den Folgen der Kopfverletzung.

Die Charité benutzt für ihre Darstellung zu diesem Fall erneut die rhetorische Technik zu dementieren, was die Berichterstattung gar nicht behauptet. 

Es ist korrekt, dass es zwei Gutachten von Gerichtsgutachtern gibt. So haben wir es auch berichtet. Nur unterschlägt die Charité, was sie selbst weiß – denn sie hat sich uns gegenüber schriftlich dazu geäußert: dass einer der beiden der Klinik einen klaren Befunderhebungsfehler attestiert hat. Und den von der Klinik vorgebrachten Einspruch als in sich widersprüchlich zurückgewiesen hat. 

Die Charité tut also in ihrer Stellungnahme so, als gäbe es zwei Gerichtsgutachten, die nur ihre Sicht der Dinge stützten. Das ist schlicht unwahr. Genau das bildet die Darstellung des stern ab – mit einer entsprechenden Stellungnahme der Klinik. 

Die entsprechende Passage aus der stern-Titelgeschichte zur Einschätzung der Gutachter lautet:

Omars Anwalt spricht deshalb von einem klaren Befunderhebungsfehler. Ein vom Gericht bestellter Gutachter, selbst Notfallarzt einer Uniklinik, kommt zum gleichen Ergebnis. Seiner Ansicht nach hätte die Charité sofort eine Computertomografie machen müssen, so sei es in maßgeblichen Behandlungsleitlinien, national wie international, empfohlen. Die eingeschränkte Wachsamkeit eines Patienten dürfe erst dann dem Alkohol zugeschrieben werden, wenn eine schwerwiegende Hirnverletzung ausgeschlossen wurde. 

Das Gutachten ist Teil einer juristischen Schlacht, Schriftsatz um Schriftsatz. 

Die Charité bestreitet die Vorwürfe. Der Gutachter beurteilt ihre Erwiderungen als nicht nachvollziehbar. Er verweist etwa darauf, dass die Sanitäter am Unfallort Omars Zustand schon kritischer einschätzten als die Charité in der ersten Nacht. 

Die Charité, so schreibt ihr Anwalt nun, teile die Auffassung des Gutachters nicht. Der Patient Omar sei in der Aufnahmedokumentation als „wach und ansprechbar“ beschrieben. Die Aussagen des Gutachters zu vermeintlichen Fehlern würden „von dem Gericht zu bewerten sein“. Die Charité gehe, ebenfalls aufgrund von Gerichtsgutachten, davon aus, dass etwaige Langzeitfolgen des Patienten Omar „nicht auf eine ‚zu späte Behandlung‘ zurückgehen“. 

Das Landgericht Berlin will Mitte kommenden Jahres entscheiden.

Fazit

Das im Rahmen des Undercover-Einsatzes gesammelte Material unserer Reporter und die Aussagen der Experten können unsere Rechercheergebnisse unzweifelhaft beweisen. Darüber hinaus berufen wir uns auf Aussagen von Informanten und Informationen aus privaten und öffentlichen Quellen. Die journalistische Sorgfalt und die presserechtlichen Bestimmungen sind daher in jeder Hinsicht eingehalten.    

*Namen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte von der Redaktion geändert

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