Wenige Tage vor der ersten Runde der Parlamentswahl in Frankreich hat die Rechtspopulistin Marine Le Pen die Befugnisse des Präsidenten als Oberbefehlshaber der Armee in Frage gestellt und damit eine heftige Debatte ausgelöst. Die in der Verfassung verankerte Rolle des Präsidenten als „Oberbefehlshaber der Streitkräfte“ sei ein „Ehrentitel“, sagte Le Pen in einem am Mittwochabend veröffentlichten Interview mit der Zeitung „Le Télégramme“.
„Es ist ein Ehrentitel, weil der Premierminister über die Kasse wacht“, betonte sie. Sie gehe davon aus, dass ihre Partei Rassemblement National (RN) die absolute Mehrheit bei der anstehenden Parlamentswahl erreiche und RN-Parteichef Jordan Bardella dann Premierminister werde. „Der Präsident wird keine Soldaten in die Ukraine schicken können“, erklärte Le Pen.
Verteidigungsminister Sébastien Lecornu antwortete darauf: „Die Verfassung ist kein Ehrenamt.“ Er zitierte im Onlinedienst X den früheren Präsidenten Charles de Gaulle: „Laut der Verfassung ist der Präsident der Garant für die Unabhängigkeit und Integrität des Landes sowie für die Verträge, die es verpflichten. Kurz gesagt, er ist für Frankreich verantwortlich.“
Der dem Präsidenten Emmanuel Macron nahestehende Politiker François Bayrou warf Le Pen Verfassungsfeindlichkeit vor. „Wenn Sie behaupten, dass es nur ein hübscher Titel ist, dann stellen Sie auf gravierende Weise die Verfassung in Frage“, sagte er dem Sender Europe 1. „Putin macht schon den Champagner auf“, sagte er in Anspielung auf die langjährige Nähe des RN zum russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Le Pen bekräftigte ihre Position später im Onlinedienst X mit etwas diplomatischeren Worten: „Ohne die Zuständigkeit des Präsidenten für die Entsendung von Soldaten ins Ausland in Frage zu stellen, hat der Premierminister durch die Haushaltskontrolle die Möglichkeit, sich dagegen auszusprechen“, erklärte sie.
Verfassungsjuristen weisen darauf hin, dass die Rollenverteilung mit Blick auf die Verteidigung in der französischen Verfassung tatsächlich nicht eindeutig geklärt sei. „Das ist einer der Punkte, wo sie am unklarsten ist“, sagte der Experte Bertrand Mathieu. „Es gibt keine klare Abgrenzung“, fügte er hinzu. Die Frage habe bislang keine Rolle gespielt, weil es keine Unstimmigkeiten gegeben habe.
Nach Einschätzung des Verfassungsrechtlers Mathieu Carpentier könnte es bei der Frage der Entsendung französischer Militärausbilder in die Ukraine zu Spannungen kommen. „Das Risiko einer politischen Krise ist ziemlich groß und könnte unseren strategischen Interessen schaden“, sagte er.
Nach einer am Donnerstag veröffentlichten Umfrage liegt der RN mit 36 Prozent weiter mit großem Abstand vorn. Das links-grüne Wahlbündnis Neue Volksfront folgt mit 29 Prozent der Stimmen, das Regierungslager ist mit 19,5 Prozent weit abgeschlagen, wie aus einer am Donnerstag veröffentlichten Ipsos-Umfrage hervorgeht. Die Wahlbeteiligung könnte demnach von knapp 48 Prozent 2022 auf bis zu 65 Prozent steigen.
Die erste Runde findet am Sonntag statt, die zweite am 7. Juli. Macron hatte nach dem RN-Triumph und der Schlappe für das Regierungslager bei der Europawahl am 9. Juni überraschend Neuwahlen zur Nationalversammlung angesetzt. Sollte der RN die absolute Mehrheit erreichen, könnte er danach gezwungen sein, mit einem rechtspopulistischen Regierungschef eine politische Zwangsehe einzugehen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigte sich in einem AFP-Interview hoffnungsvoll, dass Frankreich unabhängig vom Wahlergebnis die Ukraine weiter unterstützen werde. „Wir sind zuversichtlich, dass die nächste Regierung unabhängig vom russischen Angreifer sein wird und an den europäischen Werten festhalten wird“, sagte er.