Widerspruchslösung: Warum ausgerechnet ein FDP-Politiker die Freiwilligkeit bei der Organspende kippen will

Automatisch Organspender? Vor vier Jahren hat der FDP-Politiker Christoph Hoffmann gegen die Widerspruchslösung gestimmt. Nun will er sie gemeinsam mit Mitstreitern einführen. Woher kommt sein Sinneswandel?

Sollte jeder Mensch potenzieller Organspender sein, der dies nicht explizit zu Lebzeiten ablehnt? Das sieht die so genannte Widerspruchslösung vor. Mit ihr könnte sich bald der Bundestag befassen. Nicht zum ersten Mal: Schon 2020 stand dieses Modell zur Debatte. Damals stimmte jedoch die Mehrheit der Abgeordneten dagegen.

Einer von ihnen war Christoph Hoffmann, der seit 2017 für die FDP im Bundestag sitzt. Ausgerechnet er hat nun mit fünf Kollegen von CDU/CSU, SPD, Grüne und Linke einen neuen Entwurf für die Widerspruchslösung vorgelegt. Mit dem stern spricht er über die Gründe für seine Kehrtwende. Und die Hoffnung, das Spenderproblem endlich zu lösen. Denn noch immer sterben in Deutschland täglich Menschen, die vergeblich auf ein Spenderorgan warten.

Herr Hoffmann, haben Sie eigentlich einen Organspendeausweis?
Klar, schon ewig.

2020 beschloss der Bundestag ein digitales Organspende-Register, in das sich Spender freiwillig eintragen können. Sie selbst stimmten damals dafür und gegen die Widerspruchslösung. Warum haben Sie ihre Meinung geändert?
Der Auslöser war die jüngste Initiative im Bundesrat.

Dort haben vor zwei Wochen acht Länder, unter anderem Nordrhein-Westphalen, ebenfalls einen Entwurf für die Widerspruchslösung vorgestellt.
Wir haben unser selbstgestecktes Ziel an freiwilligen Spendern nicht erreicht. Die Wartelisten für Spenderorgane werden nicht kürzer, sondern länger. Drei Menschen sterben jeden Tag auf der Warteliste. Das ist ein unerträglicher Zustand. Wir können ihn verhindern – wenn wir die Diskrepanz zwischen der eigentlich hohen Spendenbereitschaft und niedrigen Spenderzahl auflösen. 

Christoph Hoffmann (links) kürzlich bei der Vorstellung des Entwurfs in Berlin

Sie selbst erklärten vor vier Jahren, eine Widerspruchslösung sei „ein zu großer staatlicher Eingriff in die Freiheit des Einzelnen“. Wieso finden Sie diesen Eingriff nun gerechtfertigt?
Als Liberaler setze ich immer auf Freiwilligkeit und Vernunft. Aber die Freiwilligkeit ist bei der Organspende leider gescheitert. Persönliche Freiheit bedeutet: Ich kann mich dafür oder dagegen entscheiden. Dazu müssen sich die Leute aber erstmal damit beschäftigen. Das tun sie derzeit nicht. Das Spenderaufkommen hat sich in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert, obwohl die Arztpraxen im großen Stil beraten!

Woran liegt das?
Es gibt bei den Menschen eine gewisse Trägheit. Wer nicht selbst eine nahestehende Person hat, die auf ein Spenderorgan wartet, ist mit dem Problem nicht konfrontiert. Wer setzt sich schon nach Feierabend hin und googelt, wo er das Organspende-Register findet?

Kritiker sehen in der Widerspruchslösung einen Einschnitt in die Persönlichkeitsrechte. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, spricht sogar von „Körperverletzung“.
Ich bekomme auch Zuschriften von Bürgern, die diesen Begriff verwenden. Organspende ist kein Eingriff in die Persönlichkeit. Wenn Sie spenden, sind Sie tot. Viele machen sich grausige Vorstellungen. Etwa, dass dem Toten später Organe oder Augen fehlen. Auf der anderen Seite lässt sich ein Teil der Menschen mittlerweile einäschern, was ja auch keine angenehme Vorstellung ist. 

Ein anderer Kritikpunkt ist, dass eine Widerspruchslösung ohne entsprechende Strukturen, etwa einem effizienten Transplantationsnetzwerk, nichts nützt. 
Das ist richtig, aber die Strukturen bestehen ja bereits. Organspenden werden über die Stiftung Eurotransplant in den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Deutschland, Österreich, Kroatien, Slowenien und Ungarn vermittelt. In den meisten dieser Länder gibt es die Widerspruchsregelung, weswegen es auch gegenüber den anderen Staaten fair wäre, wenn wir hier gleichziehen.  

Ihr Fraktionskollege Andrew Ullmann schlägt stattdessen vor, den Herztod statt dem Hirntod als Kriterium für die Organentnahme anzuerkennen. Das ist in anderen Ländern wie Spanien üblich. 
Das ist eine andere Debatte. Sie wird auch in Deutschland kommen, aber jetzt ist die Zeit dafür nicht reif. 

Alles, was besser ist als bisher, ist gut.

Mitglieder mehrerer Fraktionen haben ihren Entwurf unterzeichnet. Es fehlen Abgeordnete von AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht. Warum?
Die Zusammenarbeit mit den Kollegen ist nicht immer einfach. Es war zu unberechenbar, was passieren würde, wenn sie auch mit an Bord wären.

Die Mehrheit der FDP-Fraktion war 2020 gegen die Widerspruchslösung. Hat sich die Stimmung gedreht?
Schon damals haben auch einige prominente FDP-Abgeordnete für die Widerspruchslösung gestimmt, unser Fraktionsvorsitzender Christian Dürr etwa. Es geht aber nicht darum, ob eine Fraktion mehrheitlich dafür oder dagegen stimmt. Es ist eine persönliche Gewissensfrage. Meine Fraktionskollegin Katrin Helling-Plahr hat zum Beispiel einen Gegenantrag angekündigt. Darin könnte es um die Ausweislösung gehen. 

Bei dieser würde jeder Bürger zu seiner Spendenbereitschaft befragt werden, zum Beispiel bei der Erneuerung eines Personalausweises. Ließe sich dafür nicht leichter eine Mehrheit im Bundestag finden?
Die Kommunen lehnen das derzeit ab, weil sie von der Beratung überfordert wären. Ein Einwohnermeldeamt kann nicht über die Organspende aufklären. Das muss ein Hausarzt machen. Die Widerspruchslösung würde die Kommunen nicht belasten.

Meinung Organspende 15.35 

Trotzdem zeigen Sie sich auch für solch ein Modell offen. 
Es geht zunächst darum, dass die Debatte wieder in Gang kommt. Bei den Bundesländern wäre der Weg für die Widerspruchslösung frei. Da könnten wir also schnell vorankommen. Alles, was besser ist als bisher, ist gut. Natürlich kann es sein, dass wir am Ende auch über die Ausweislösung abstimmen. 

Stichwort Tempo: Sie wollen den Gesetzentwurf noch 2024 beschließen. 2026 oder 2027 könnte dann die Umstellung auf die Widerspruchslösung erfolgen. Verlieren Sie hier nicht wertvolle Zeit?
Es gibt keinen festen Zeitplan. Die Devise lautet: So schnell wie möglich. In der Sommerpause können die Kollegen nun nachdenken oder eigene Anträge entwerfen. Danach beginnt die Orientierungsdebatte. Ich denke es geht dieses Mal schneller, weil die Argumente schon einmal ausgetauscht wurden. Wir wollen unseren Entwurf noch in diesem Jahr in den Bundestag einbringen. 

Wieso wollen Sie eine Übergangszeit zwischen Gesetzbeschluss und Inkrafttreten der Widerspruchslösung?
Wir können die Menschen nicht überrumpeln. Wir können nicht sagen: Ab morgen gilt die Widerspruchslösung. Die Bevölkerung muss darüber aufgeklärt werden. Und sie braucht genügend Zeit und Raum, um auch widersprechen zu können. Hier sind zwei Jahre eine angemessene Zeitspanne. 

Wie stellen Sie sicher, dass jeder die Chance zum Widerspruch bekommt?
Da haben die Medien eine große Aufgabe. Unser Antrag sieht ebenfalls eine Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vor. Wir brauchen auch Broschüren in Einwohnermeldeämtern. Und die Ärzte müssen weiter informieren.

Angenommen, es werden tatsächlich mehrere Vorschläge im Bundestag abgestimmt: Birgt das nicht die Gefahr, dass am Ende keine Option eine Mehrheit findet?
Es darf nicht sein, dass sich Abgeordnete nicht entscheiden. Da sind wir als Parlamentarier in der Pflicht. Das war das Problem, als wir 2023 den assistierten Suizid neu regeln wollten. Viele enthielten sich, es gab unüberbrückbare Differenzen zwischen den beiden Lagern und keine Mehrheit für einen Antrag.

Der Bundestag stimmte damals über zwei Gesetzentwürfe ab. Beide wollten die Sterbehilfe erleichtern. Beide fanden nicht die erforderliche Mehrheit – obwohl das Gros der Abgeordneten mit der geltenden Regelung unzufrieden waren. 
Das war kein gutes Zeugnis für das Parlament. Bei der Debatte über Organspende müssen wir, wenn es weitere Gruppenanträge gibt, versuchen diese zu einen. Ich bin aber ziemlich sicher, dass sich für die Widerspruchsregelung eine Mehrheit findet.