Beim Parteitag in Essen verzichtet die AfD angesichts zehntausendfachen Protests und anstehender Landtagswahlen auf offenen Streit – und die Erwähnung eines bestimmten Namens.
Nein, das hatte Tino Chrupalla nicht erwartet, und seine Partei auch nicht. Der alte und neue Vorsitzende der AfD wirkt angefasst, als er auf der Bühne in der Grugahalle steht, hinter sich die riesige, blaue Wand mit dem Parteilogo und zehn säuberlich aufgereihten Nationalfahnen.
Seine Augen schimmern feucht und die Stimme zittert, als er ruft: „Ich werde mich weiter in den Wind stellen!“. Und ja: „Ich werde noch mehr arbeiten!“
Der sächsische Malermeister Chrupalla hatte 2017 dem damaligen CDU-Bundestagsabgeordneten und heutigen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer den Wahlkreis in Görlitz abgenommen und war 2019 zum Parteichef aufstiegen. Doch seitdem haderte die AfD immer wieder mit ihm, sei es wegen seiner holpernden Rhetorik, den zuweilen ungelenken Auftritten oder schlecht kommunizierten Entscheidungen. Vor zwei Jahren, auf dem Parteitag in Riesa, musste der Vorsitzende gegen einen Gegenbewerber antreten und wurde nur mit mickrigen 53 Prozent im Amt bestätigt.
Gerüchte über eine Abstrafung Chrupallas
Aber nun, an diesem Samstagmittag in der Grugahalle von Essen, hat Chrupalla 82,2 Prozent der Delegiertenstimmen erhalten. Das Resultat wirkt umso überraschender, da insbesondere er für den Umgang der Parteiführung mit dem skandalbelasteten Europaabgeordneten Maximilian Krah verantwortlich gemacht wurde. Eine Seite warf ihm vor, den früheren Spitzenkandidaten fallen gelassen zu haben. Die andere Seite fand, dass er nicht konsequent genug gehandelt habe.
In den Wochen vor dem Parteitag hatte es viele Treffen und Telefonate gegeben. Chrupalla werde in Essen abgestraft, hieß es in der AfD, dafür dürfte allein schon das Lager um Krah sorgen. Der bayerische Landesverband brachte eigens einen Antrag ein, der sich wie eine einzige Solidaritätsadresse für den umstrittenen EU-Abgeordneten las.
In das allgemeine Rumoren fügte sich ein Satzungsvorschlag von immerhin 13 Landesvorsitzenden. Er sieht die neue Position eines Generalsekretärs vor, und zwar in Verbindung mit einer Einzelspitze. Und diese Einzelspitze, verlautete übereinstimmend aus der Partei, werde spätestens ab 2026 aus Alice Weidel bestehen. Der aufstrebende Bundestagsfraktionsvize Sebastian Münzenmaier könnte dann als Generalsekretär das operative Geschäft übernehmen. Chrupalla wäre damit mittelfristig draußen.
Alice Weidel wird nur zweite Siegerin
Doch am Samstag kommt es erst einmal ziemlich anders. Nach seiner Bestätigung tritt Chrupalla strahlend ans Rednerpult und schlägt im Überschwang seine „geliebte Co-Vorsitzende“ zur Wiederwahl vor. Weidel bedankt sich ironisch bei ihrem „geliebten Tino“ – um dann allerdings, und das ist nächste Überraschung, nur knapp 80 Prozent zu erhalten. Plötzlich erscheint Weidel, die selbstgewiss in den Parteitag ging, bloß als zweite Siegerin.
Aber so ist das eben in dieser AfD, in der selbst für die Funktionäre nur wenig vorhersehbar ist. Und so ist das erst recht auf einem Parteitag, der unter extremen Druck stattfindet. Druck durch die im September anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Druck durch das neu gegründete und erstaunlich erfolgreiche Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Und Druck durch den Widerstand von außen.
Der Widerstand ist allgegenwärtig in Essen. Kurz vor 6 Uhr hat die Polizei ihren ersten Großeinsatz, weil Demonstranten eine der 45 Sperrstellen überwinden wollen. Die Beamten verhindern unter Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray den Durchbruch.
Die Protestierer sind überall. Sie besetzen Zufahrten und versperren Straßen. Unter die überwiegend friedlich protestierenden Menschen haben sich äußerst bewegliche und taktisch geschulte Gruppen von Linksextremisten gemischt. Sie bedrängen und bedrohen Delegierte und Gäste des Parteitags, aber auch Journalisten. Einigen müssen die Polizisten förmlich den Weg freikämpfen. Zwei Beamte gehen zu Boden, Demonstranten treten ihnen so heftig gegen die Köpfe, dass sie schwerverletzt ins Krankenhaus müssen.
Die Proteste vor der Essener Grugahalle verliefen zum größten Teil friedlich. Doch es kam auch zu linksextremistischen Ausschreitungen.
Um die 4000 Beamte sind aus mehreren Ländern für dieses Wochenende in Essen zusammengezogen. Sie ballen sich im Stadtteil Rüttenscheid, wo die Grugahalle einer Festung gleicht. Der riesige Betonkomplex ist mit mehreren Reihen aus Absperrgittern umgeben. Wasserwerfer und Räumpanzer stehen bereit.
Tatsächlich schaffen es fast alle der 600 Delegierten halbwegs pünktlich in die Halle, in der einst Rolling Stones auftraten, Boris Becker im Davis-Cup siegte und Angela Merkel von einem CDU-Parteitag erstmals zu Vorsitzenden gewählt wurde. Jetzt polemisiert Alice Weidel in ihrer Eröffnungsrede gegen den „woken Hippiewahn“ der Bundesregierung an, dem die AfD ein „Ende bereiten“ werde. Das Land sei zu „einem Ponyhof verkommen“.
Und in diesem Ton geht es weiter. Sie skandalisiert die Folgen der Migration („Mehr Messerangriffe, mehr Morde, mehr Vergewaltigungen“) und fordert Massenabschiebungen: „Raus müssen diejenigen, die millionenfach illegal seit dem Merkel-CDU-Willkommensputsch 2015 in unser Land reingekommen sind.“
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Schließlich attackiert Weidel den Verfassungsschutz („Verfassungsfeind“), wendet sich gegen das Selbstbestimmungsrecht („wird die AfD sofort abschaffen“) und belobigt das EU-Wahlergebnis („Der Osten ist blau“).
Die Rede passt zum Ort. Denn in der Grugahalle begann im Sommer 2015 der Radikalisierungsprozess der AfD. Damals wurde der Vorsitzenden Bernd Lucke gestürzt und verließ samt dem wirtschaftsliberalen Lager die AfD. Danach bestimmte der rechtsextremistische „Flügel“ des thüringischen Landesvorsitzenden Björn Höcke zunehmend den Kurs.
Neun Jahre später ist die Partei in Bund und Ländern etabliert und zählt bald 50.000 Mitglieder. Dennoch ist sie von der Macht so weit entfernt wie 2015. Auch wenn Chrupalla in seiner Rede baldige Regierungsübernahmen beschwört, besagen die Umfragen etwas völlig anderes. Mit der neue Konkurrenz durch das BSW ist die Wahrscheinlichkeit einer Alleinregierung in Sachsen oder Thüringen auf null gesunken. Und mit Ausnahme der bislang überaus erfolglosen Werteunion sind potenzielle Koalitionspartner nirgendwo in Sicht.
Der Vorsitzende übt moderate Selbstkritik
Chrupalla greift deshalb das Wort auf, das vor allem der Nachwuchs um Münzenmaier bemüht: Professionalisierung. Die Skandale um Krah, die die AfD in Brüssel die Fraktionsgemeinschaft mit Marine Le Pens Rassemblement National kostete, sollen eine Lehre sein.
„Wer Positionen vertritt, die dem Mainstream widersprechen, der muss zu 100 Prozent integer sein“, erklärt der Vorsitzende. „Unvorsichtiges und unprofessionelles Verhalten“ habe „unnötige Angriffsflächen“ geboten.
Es folgt moderate Selbstkritik. Die Wahl der Europawahlliste auf dem Parteitag in Magdeburg sei nicht optimal verlaufen, sagt Chrupalla. „Eignung oder Kompetenz waren nicht in jedem einzelnen Fall das entscheidende Kriterium.“ Daher werde der Bundesvorstand die Kandidaten „genauer ansehen“ und künftige Aufstellungen „enger begleiten“.
Chrupalla kann sich diese Sätze auch deshalb leisten, weil Krah nicht nach Essen gereist ist. Zudem ziehen die Bayern ihren Unterstützungsantrag rasch zurück.
Und so weht fast so etwas wie Harmonie durch die Grugahalle. Die Positionen des Bundesvorstands sind bis 18 Uhr besetzt – und dies zumeist im Sinne von Weidels, Chrupallas und des Netzwerks um Münzenmaier. Darüber hinaus, heißt es, soll der Satzungsantrag aufgeweicht werden: Danach könnte ein Generalsekretär auch unter einer Doppelspitze arbeiten.
„Wir als Partei fangen erst richtig an, Geschichte zu schreiben!“, ruft Weidel. „Im Osten muss für uns die Sonne der Regierungsverantwortung aufgehen“, assistiert Chrupalla.
Die Frau, die dabei stören könnte, wird allerdings nicht erwähnt. Kein AfD-Politiker spricht an diesem Samstag in der Grugahalle am Mikrofon den Namen Sahra Wagenknecht aus. Aber dafür ist ja vielleicht noch am Sonntag Zeit, wenn der Parteitag fortgesetzt wird.